[Geschichte] Renommiergeld, Gedenkstätten und die Lage der Geisterjäger unserer Gesellschaft

Dieser Beitrag ist ein Kommentar zum offenen Brief „Große Bedeutung – schlechte Bedingungen: Mitarbeiter*innen von Gedenkstätten fordern faire Entlohnung, soziale Absicherung und mehr Mitbestimmung“. Obwohl ich selbst kein Gedenkstättenmitarbeiter bin, habe ich diesen offenen Brief unterschrieben. Ich finde besonders den Titel „Geschichte wird gemacht“ sehr treffend. Da ich selbst auch Historiker bin, folglich gewissermaßen „Geschichte mache“, indem ich Geschichten über Geschichte schreibe — aber nicht nur deswegen — fühle ich mich direkt angesprochen und verpflichtet: vielleicht als Antwort auf die Frage, wie Geschichte gemacht wird. Vielleicht als Versuch der Ver-Antwort-ung?

Diesen kommentierenden Essay sehe ich also einerseits als eigenen Einsatz, der wiederum Teil eines größeren, gesellschaftlichen Kampfes ist, in dem es um nicht mehr und nicht weniger als „totale soziale Tatsachen“ geht, die aussagekräftig über den Zustand der ganzen Gesellschaft sind; auch wenn ich mich frage, wie ich „Gesellschaft“ genau eingrenzen könnte, steht doch fest, dass es ganz eindeutig Gesellschaft gibt. Ich verstehe darunter grundsätzlich das, was Hannah Arendt als „Inter-est“ oder „Inter-Esse“ — wir schreiben ganz selbstverständlich von Interesse — bezeichnet hat: das Zwischen-den-Menschen.

Dem hauptsächlich in der Anthropologie und Soziologie verwendeten Begriff der „totalen sozialen Tatsachen“, der in engem Zusammenhang mit der sozialen Interaktion der Gabe (wie z.B. Bezahlung) steht, werde ich mich in diesem Essay annähern. Gleichzeitig will ich mithilfe dieser Begriffe diskutieren, weshalb der Umgang mit Geschichte, Gedenken, Gedenkstätten, aber auch und besonders die Bezahlung von Gedenkstättenmitarbeiterinnen sowie die Finanzierung von Projekten gegen Faschismus und Rassismus, wesentlich darüber entscheidet, wohin sich die Gesellschaft entwickelt: welche Richtung schlägt sie ein? Was wird gewertschätzt, was nicht?

Mein Kommentar ist Teil eines Versuches, den Mund aufzumachen und darauf hinzuweisen, dass Historikerinnen, aber auch alle anderen Geistes- und Sozialwissenschaftlerinnen, die von Abwertung betroffen sind, im Namen ihrer eigenen Wissenschaftlichkeit, ihres eigenen Berufes, ihrer eigenen Gesellschaft — ihres „Inter-Esses“ mit der Welt — den Mund aufmachen sollten. Sie sollten mitbestimmen in der Frage nach den Gaben.

Es geht in diesen Gaben nicht nur um die Gaben und die Frage der sozialen Position selbst; es geht dabei auch um die historisch gewordenen, tagtäglich hergestellten und selbst wieder historisch werdenden Entstehungsbedingungen und Handlungsmöglichkeiten ihrer Profession: nämlich des Übersetzens und des verständlich machen Könnens: mithin des „Bändigens“ dessen, was oft mit der Metonymie der „Geister“ oder „Dämonen“ der Geschichte umschrieben wird.

Ich sehe dieses Einschreiten also auch als Versuch einer Antwort auf die Frage: „how to do things with words?“ (nach dem Buchtitel von John L. Austin), gepaart mit der Suche nach „Arbeit“ eines gerade erwerbsarbeitslosen Gesellschaftshistorikers, historischen Anthropologen, Linguisten und Politikwissenschaftlers; nach Arbeit, die nicht sofort oder hauptsächlich mit der Tätigkeit des Herstellens und dem Nebeneffekt der Entfremdung einhergeht; nach Arbeit, die Versorgung und Inter-Esse angemessen sichert.

Historikerinnen haben im Grunde mehr als genug Arbeit (auf-zu-arbeiten und zu ver-Antwort-en). Wenn ich einmal auf meine persönliche Lage blicke, kann ich feststellen, dass ich in diesen Tagen sogar sehr, sehr viel schreibe — fast so, als litte ich unter Entzugserscheinungen, nachdem ich die Dissertation am zwölften Zwölften 2019 abgegeben habe. Ich frage mich sogar, ob das so etwas wie eine „Nachgeburt“ ist. Aber weder habe ich gerade eine Erwerbstätigkeit, die mich mit „echtem Geld“ versorgen würde, noch habe ich den Eindruck, die Frage „how to do things with words?“ angemessen beantworten zu können.

Und obwohl ersterem Zustand — der Geldlosigkeit — schnell Abhilfe geschaffen wäre, nämlich durch Annahme „irgendeiner“ Erwerbstätigkeit, geht es mir um die ganze Frage; ich gebe es zu, das darf die Jobcenterin ruhig wissen: ich setze wohl die Prioritäten falsch, denn es geht mir viel stärker um die zweite Frage. Noch einmal: „how to do things with words?

Wie kann ich meine Fähigkeiten entsprechend meiner Ausbildung und „meines“ Inter-Esses sinnvoll verwenden? Mich beschäftigt, weiter gefasst, nach wie vor und ungebrochen eine Frage, die mich zu Beginn meiner Feldstudien, im Spätherbst 2014, aus der (nie sehr stabilen) Fassung gebracht hat: damals habe ich mich, in einem makedonischen Taxi auf einen Treck Flüchtender in einem Autobahntunnel blickend, gefragt, was ich hier eigentlich tue und zu welchem Zweck ich ein Buch mit Life-stories über Flucht schreiben will, während vor meinen Augen, Jahrzehnte später, in die Gegenrichtung geflohen wurde? Live, sozusagen.

Und damit komme ich zu einem noch aktuelleren Anlass: ich sehe dieses „Mund aufmachen“ der Sozial- und Geisteswissenschaftlerinnen, das meinen-Mund-aufmachen, nämlich auch als Kommentar auf die gerade zirkulierenden Erinnerungen an die 75 Jahre, die vergangen sind, seit Auschwitz befreit worden ist und im Kern alles über den Holocaust gewusst werden kann. So schließt sich auch der Kreis (oder die Ellipse?) hin zur Frage der Gaben, der Lage der Gedenkstättenmitarbeiterinnen und der totalen sozialen Tatsachen.

Die Rede von „Dämonen“ und „Geistern“

Der Tagesspiegel hat am 23. Januar 2020 etwas plakativ getitelt: „Die Dämonen sind längst nicht gebannt“. Wie berechtigt ist dieser Satz? Sind die „Dämonen“ wirklich nicht gebändigt, hätte man sie bändigen können, und wieso ist überhaupt von so einer „unwissenschaftlichen“ Kategorie wie „Dämonen“ oder „bösen Geistern“ (Steinmeier) die Rede?

Ich denke nicht, dass die „Dämonen“ oder „Geister“ der Geschichte endgültig „gebannt“ werden können. Ich erlaube mir, „Dämonen“ oder „Geister“ hier nicht wörtlich zu verstehen — obwohl es natürlich möglich ist, diese Begriffe spirituell als die Geister der Opfer, Täter, „Untoten“ zu deuten. Ich verstehe diese Begriffe hier metaphorisch, also uneigentlich, und als Metaphern sind sie tropisch: Tropen („Wendungen“) „wenden sich“ zwischen eigentlicher und uneigentlicher Ebene, und als Tropen der Nazis, der Deutschen und deutschen Täter, der SS-Leute, der KZ-Opfer, der ermordeten Juden, Roma, Sinti, Homosexuellen, Kommunisten, Christen, Minderheiten; als Tropen des Faschismus und Rassismus laufen sie tatsächlich hin- und her: in einem Diskurs, der als Raum auch zeitlich vorzustellen ist.

Gedenkstätte
Gedenkstätte für NS-Zwangsarbeiter, Friedhof der St. Thomas Gemeinde in Berlin-Neukölln (Hermannstraße). Eigene Aufnahme, TS.

Doch wer soll sie „bändigen“, die metaphorischen „Geister“ und „Dämonen“, um sich auch der Trope des Bändigens zu stellen? Die Antwort ist doch eigentlich klar: es gibt dafür den Beruf der „Bändigerinnen“, nämlich der Geistes- und Sozialwissenschaftlerinnen.

Und genau die sehen sich oft auf prekäre und undankbare soziale Ränge im Gefüge des „Arbeitsmarktes“ verwiesen, was den berechtigten Eindruck vermittelt, es sei der Gesellschaft insgesamt wenig daran gelegen, was nun mit den „Dämonen“ eigentlich passiert. Daran ändert auch eine „bemerkenswerte Rede“ von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zum Auschwitz-Gedenken in Yad Vashem solange nichts, wie diese „Warnung an Deutschland“ vor „bösen Geistern in neuem Gewand“ (Spiegel) ohne Folgen bleibt. Diese Folgen bestehen aus echtem Geld und aus „Renommiergeld“.

Zu diskutieren ist hier aber auch der komplizierte Zusammenhang der Komplizenschaft zwischen Geistes- und Sozialwissenschaftlerinnen einerseits, und abwertenden öffentlichen Meinungen über ihren Berufsstand andererseits. Welche Folgen hat die dadurch bedingte Verinnerlichung oder Inkorporation niedrigen Ansehens der eigenen Fähigkeiten für das erkennen, (fremd-)verstehen und übersetzen Können geschichtlicher Erkenntnisse? Dieser Zusammenhang ist vielleicht etwas komplex – aber er ist vorhanden, und er hat mit der Frage zu tun, welches Ansehen Gedenkstätten und ihre Mitarbeiterinnen in der Gesellschaft haben.

Sucht euch halt Arbeit: It’s not knowledge, it’s skills, stupid!

Beschwerden und Einsprüche gegen die endemischen, allgegenwärtigen und normalisierten prekären Arbeitsverhältnisse werden oft als Gejammere auf hohem Niveau abgetan: insbesondere dann, wenn die Beschwerden von Menschen kommen, die hohe Bildungstitel in den Geistes- und Sozialwissenschaften erworben haben. Die „Ungebildeten“ hätten sich ja besser bilden können, dann hätten sie auch mehr Geld; „Hochgebildete“ dagegen sollten mal runter kommen, sich anstrengen, Bewerbungen schreiben. Wird das nicht ausreichend getan, wird schon einmal „sanktioniert“.

Unterbezahlte oder erwerbsarbeitslose Geistes- und Sozialwissenschaftlerinnen werden nicht ganz ernst genommen, manchmal bemitleidet – denn: sie könnten mit all ihrer Bildung ja auch bei Google, Amazon oder in einer historischen TV-Serie ihre Nische finden, Teil des brummenden Marktes werden. Wie wäre es mit einem Job beim Geheimdienst, als Quereinsteiger im Schuldienst, als Schreiber seichter Texte im „Denkpanzer“? Die Algorithmen sind ständig hungrig nach Wissensfragmenten. Wer das für absurde Übertreibungen hält, begebe sich doch einmal in die Rolle der erwerbsarbeitslosen Geistes- und Sozialwissenschaftlerin und führe, als „Kundin“, ein hierarchistiertes Gespräch mit einer Jobcenterin, die doch „nur helfen“ will.

Der manchmal mitleidige Blick auf die Geistes- und Sozialwissenschaftlerin rührt oft daher, dass gedacht und auch geäußert wird, die Geistes- und Sozialwissenschaftlerin könne eigentlich auch „gar nichts richtig„: so lange studiert, aber wofür? In einer Nachtschicht einer Kugellagerfabrik hat mir ein Arbeiter einmal gesagt, solange am Ende kein Kugellager herauskäme, sei „so was“ doch irgendwie gar nichts. Mit solchen Verständnisproblemen wird sich die durchschnittliche Sozial- und Geisteswissenschaftlerin aber nicht konfrontieren müssen, denn sie kommt in der Regel aus einem bildungsbürgerlichen Hintergrund.

Doch das geringe Ansehen hat nicht etwa (nur) mit Verständnisproblemen von „Klassenfremden“ zu tun: durch die ständigen Kürzungen des noch zu behandelnden Renommiergeldes und echten Geldes wird außerdem erreicht, dass die zu schneller und unentgeltlicher Produktion von Texten angetriebene Geistes- und Sozialwissenschaftlerin gar nicht dazu kommt, den dahinterstehenden Schmähklatsch gegen sie zu erkennen und zu benennen. Der irrige Glaube, sie könne „auch eigentlich gar nichts richtig“, wird oft internalisiert, wie ich beobachtet habe. Hinzu kommt, dass sie immer wieder gefragt wird, wie viele Sprachen sie denn wenigstens könne, wie gut, und ob das nicht wenigstens vielleicht…?

Die Botschaft dahinter lautet: It’s not knowledge, it’s skills, stupid!

Die verinnerlichte Herabwürdigung

Doch wie muss man sich diese Verinnerlichung vorstellen, und wie führt sie mit in den schlecht bezahlten Job einer Gedenkstätte, zum unbezahlten Lehrauftrag, in die untertariflich, halbe und begrenzte Stelle, in die Rolle der Drittmittelantragsschreiberin?

Die von vorneherein negativ auf ihre drohende Zukunft blickende Geistes- und Sozialwissenschaftlerin sagt sich im Voraus: „es wird schwer, etwas zu finden, und Stellen gibt es so gut wie gar keine mehr“. Erfahrene, bereits Promovierte raten ihr: „in der Wissenschaft hat man heute kaum eine Chance.“ Mir hat ein erfahrenerer Kollege am Anfang meiner Zeit als Doktorand gesagt, dass er es unverständlich finde, wie ich nur einen gut bezahlten Job im Öffentlichen Dienst hätte hinter mir lassen können; tatsächlich war dieser Job einfach „nur“ angemessen — tariflich — bezahlt. Die Erklärung, dass ich meine Berufung darin sähe, mein wissenschaftliches Inter-Esse weiter zu vertiefen, wurde fast ähnlich verständnislos quittiert wie durch den Arbeiter in der Kugellagerfabrik.

Geistes- und Sozialwissenschaftlerinnen versuchen entsprechend oft, die Zeichen ihrer Zeit als Zeitgeist zu sehen und ernst zu nehmen (zamanın ruhu bu, wurde mir einmal in der Türkei gesagt). Sie sagen sich vielleicht: „ich habe doch Bourdieu gelesen„, und da heißt es, „Bildung ist kulturelles Kapital“, und kulturelles Kapital ist konvertibel in ökonomisches Kapital (vulgo: Geld); und dann verdiene ich am Ende eben, was ich nach den Gesetzen des Marktes verdiene. Doch vielleicht haben sich manche Geistes- und Sozialwissenschaftlerinnen Bourdieu auch nur flüchtig durchgelesen, war mein Verdacht: denn ein, zwei Artikel müssen genügen, für mehr ist oft keine Zeit. Deshalb glauben sie womöglich, der Anteil von Wissen an ihrem Gedachten — das Wissen über die Angemessenheit ihrer zu Erwartenden Gaben — sei quasi empirisch belegt.

Diese Verinnerlichung ist ein erheblicher Bestandteil des Problems. Ich habe einmal einer jüngeren Geisteswissenschaftlerin gegenüber, die Werbung für untertarifliche Stellen verbreitet hatte, kritisiert, dass diese Werbung inakzeptabel und Teil des Problems sei. Man dürfe nicht Stellen ausschreiben und Qualifikationen auf Master-Niveau erwarten, dazu noch extra Kompetenzen verlangen, wie schwer zu erwerbende, aber auch schwer zu messende Sprachkenntnisse (aber bitte ‚perfekt‘!) — dann aber auf Bachelor-Niveau bezahlen. Das kann passieren, kein Problem. Aber darauf muss dann hingewiesen werden, damit eine solche Praxis in Zukunft nicht mehr vorkommt. Es darf eigentlich nicht passieren, dass dem Einspruch entgegengehalten wird, man habe doch gar keine Ahnung, und „heutzutage in Berlin ist das eben so“. Passiert aber.

Geld, Renommiergeld und Bezahlung als totale soziale Tatsache

Das Geld, das Geistes- und Sozialwissenschaftlerinnen als Mitarbeiterinnen von Gedenkstätten und anderer Stellen in ihrem Berufsfeld bekommen, ist aber nicht nur ihr Geld: es ist auch das Renommiergeld der Gesellschaft. Renommiergeld ist aussagekräftig über Gaben, die als totale soziale Tatsachen ausagekräftig über die Gesamtheit der Gesellschaft sind. Weil aber der Begriff totale soziale Tatsachen und deren Existenz einen soziologischen und anthropologischen Erkenntniswert der Wissenschaft über Gesellschaft darstellen, ist es so dringend und zwingend notwendig für Vertreterinnen der zusammengebastelten „Ideologie“ des Neoliberalismus — die eher eine Art „bricolage“ von Versatzstücken ist — die Existenz von Gesellschaft insgesamt in Frage zu stellen. „Heutzutage in Berlin ist das eben so“ transportiert genau dieses Geschmäckle, das auch immer etwas belehrend wirkt.

Margaret Thatcher hat 1987 gesagt: „And, you know, there’s no such thing as society“ („Und wissen Sie, so etwas wie Gesellschaft gibt es nicht“). Ihr Satz ist ein historischer Satz: Historikerinnen zum 20. Jahrhundert sollen und müssen ihn kennen und kontextualisieren. Ihr Satz fiel in einer Zeit, die inzwischen als Epoche in den Annalen steht, aber die Bezeichnung dieser Epoche führt in die Irre: sie lautet „Kalter Krieg“.

Wer in einer der Sprachen Europas (und außerhalb) — unabhängig davon, ob diesseits oder jenseits der ehemaligen bipolaren Grenze, die ich aus meinem Berliner Nordfenster immer noch jeden Tag als Landmarke sehen kann — „Kalter Krieg“ sagt, bemüht eine Chiffre. Diese Chiffre lässt sich in Worte auffalten wie „Sowjetunion“, „Kapitalismus“, „Kommunismus“, „Grenztote“, „Berliner Mauer“, „James Bond“, „Glienicker Brücke“, „der Kreml“, und schließlich „Perestroika“, „Glasnost“, „Hornie“ und „Margot“ und „Helmut“ und „Gorbi“. Und wie der „Kalte Krieg“ noch hieß.

Wer aber „And, you know, there’s no such thing as society“ sagt, sagt etwas sehr viel komplexeres und auch etwas sehr Nihilistisches: etwas, das überhaupt nicht „überwunden“, „beendet“ oder so gestorben ist wie Margaret Thatcher (Hornie, Margot, Helmut, Gorbi…), wie es die Tropen des „Kalten Krieges“ als abgeschlossene, historische Epoche glauben machen wollen. Der Satz „And, you know, there’s no such thing as society“ sagt nämlich nicht nur, dass „Gesellschaft“ als Begriff und Vorstellung des Interagierens, des Gruppen Bildens und in Beziehung Stehens von Menschen abgewertet wird: dieser Satz macht auch grundsätzliche Erkenntnisse von Geistes- und Sozialwissenschaftlerinnen fragwürdig und in letzter Konsequenz unmöglich.

Schließlich entspricht es ja in aller Kohärenz den Regeln der Logik, dass die (trotzdem völlig falsche) Vorstellung der Abwesenheit von Gesellschaft (no such thing as society) impliziert, dass es auch keine totalen sozialen Tatsachen mehr gibt. Demnach kann auch die Gabe als zentrales Ritual, in dem sich totale soziale Tatsachen abbilden, nicht mehr als solche betrachtet und verstanden werden. Sie figuriert angeblich als bloßer Zahlenwert, und die subtileren und sozialen Funktion des Zahlenwerts werden verschleiert.

Totale soziale Tatsachen sind laut Marcel Mauss ein Ensemble von sozialen, politischen, religiösen, spirituellen, wirtschaftlichen und anderen Aspekten der Gesellschaft, die sich in der Gabe abbilden. Die Gabe ist also nicht nur der numerische Betrag einer Geldgabe, wie zum Beispiel die 300.- Euro, die eine Geistes- und Sozialwissenschaftlerin für ihren TOEFL-Test bezahlt, der dann wiederum als numerischer Punktwert (z.B. TOEFL 111 – reicht für Harvard) in ihrem CV fortlebt und ihr den Zugang z.B. zu einer englischsprachigen Graduiertenschule ermöglicht; die notwendige Gabe von 300.- Euro sagt etwas darüber aus, wieso ein Sprachtest für die englische Sprache mit ihrer vergleichsweise rudimentären, für Deutsch sprechende Geistes- und Sozialwissenschaftlerinnen einfach zu verstehenden Grammatik, mit ihrem relativ ähnlichen Vokabular in einer bestimmten Gesellschaft — zum Beispiel in der Wissenschaftslandschaft des Stadtstaates Berlin und des Landes Deutschland — mehr Prestige und „Wert“ hat, als Sprachen wie z.B. Türkisch oder Jezik*, die sehr viel schwieriger zu „erwerben“ sind; auch in „erwerben“ spiegelt sich die Marktlogik der Gabe und des Gebens. Diese Sprachen sind, außerhalb spezialisierter Felder, vergleichsweise „wertlos“ in den öffentlichen Meinungen, und es gibt dafür soziale Gründe.

Es ist kein Geld mehr da für die Bändigerinnen der Dämonen

Dieses Prestige oder gesellschaftliche Ansehen, und allein die Feststellung, dass es höheres und niedrigeres Prestige gibt, widerspricht und widerlegt die Behauptung sowie den subtilen und verschleierten Irrtum „there’s no such thing as society“, aber auch die dazu gehörigen Annahmen, dass die Menschen „verdienen, was sie verdienen“; also unter Umständen „verdientermaßen“ bei Google (als an den Haaren herbei gezogenes, aber nicht unrealistisches Beispiel) mehr als in der Gedenkstätte eines KZ.

Dieses Prestige ist von Marcel Mauss (u.a.) als Renommiergeld bezeichnet worden. Wenn nun der Renommiergeldbetrag für Mitarbeiterinnen der Geistes- und Sozialwissenschaftlerinnen niedriger ist als für Trägerinnen anderer, aber nominal vergleichbarer Titel (Master, PhD/Dr.), zum Beispiel hochqualifizierte Herstellerinnen von Verbrennungsmotoren und Lenkradtechnologien für individuellen PKW-Verkehr (abstrahiert aus einem realen Beispiel), dann hat das aber nicht nur Auswirkungen auf den Geldbeutel der Geistes- und Sozialwissenschaftlerinnen (sowie das lästige „Helfen“ der Jobcenterin), sondern auch auf den „Gegenstand“, zu dem sie ausgebildet sind. Im Fall der Gedenkstätten zu den Opfern des Nationalsozialismus wäre das die Gedenk- und Verstehenspraxis zum Holocaust und zu totalitären Regimen wie Nazi-Deutschland.

Um auf den Titel des Artikels des Tagesspiegels „Die Dämonen sind längst nicht gebannt“ zurückzukommen — und das ist nicht in erster Linie als Kritik an Autor, Titel, Inhalt zu verstehen, obwohl ich den Titel zugegebenermaßen misslungen finde — so bedeutet die Verschleierung der Kritik an der Handlungslogik der Gaben, sowie die Aufgabe der Enthüllung durch Geistes- und Sozialwissenschaftlerinnen, folgendes:

Natürlich können „Dämonen“ als uneigentliche Tropen eigentlicher Genozide nicht ein für alle Mal gebannt sein. Es wird niemals möglich sein, außer über den nicht anstrebenswerten Weg des Schweigens und der Auslöschung der Erinnerung und all ihrer Gedenkstätten, den Holocaust als Wissen zu vertreiben. Das vertreibt aber keine Dämonen, im Gegenteil, es würde sie rufen und einladen.

Denn man darf sich „Dämonen“ nicht wie verhuschte, transparente, gespensthafte und unwirkliche Wesen vorstellen, die über einem kalten und toten Feld des Völkermordes ihr Unwesen treiben, von wo aus sie übergriffig werden und in der Gegenwart als „Agenten“ der überwundenen Geschichte zur Tat schreiten und den Antisemitismus „zurück bringen“. Das hat der Autor auch bestimmt nicht mit dieser Intention geschrieben.

Gleichzeitig gibt es „Dämonen“, die wohl in den Menschen selbst überall und jederzeit veranlagt sind, denn sonst gäbe es ja keine Völkermorde und keinen Rassismus, immer wieder, weltweit. Das lässt die Frage der Singularität des Holocausts, als spezifisches „Ereignis“, erst einmal ganz unberührt. Diese Dämonen können besonders dann machtvoll werden, wenn es niemanden gibt, der sich auf ihr Handwerk versteht, weil die Logik der Gabe als totale soziale Tatsache den Beruf der Geistes- und Sozialwissenschaftlerinnen abgewertet hat, mitsamt der Gesellschaft, und weil diese Abwertung im schlimmsten Fall noch nicht einmal von „Gesellschaftswissenschaftlerinnen“ (dann in Anführungszeichen) selbst noch erkannt wird.

Deswegen gehört es ohne jeden Zweifel in die Ausbildung dieser Übersetzerinnen langer zeitlicher und menschlicher Prozesse, sprachliche und soziale Abwertungs- und Herabwürdigungsprozesse zu verstehen und zu bekämpfen. Zu sagen, die Verhältnisse sind halt heute in Berlin (und anderswo) so, wie sie sind, bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als sich selbst und seine Fähigkeiten irrelevant zu machen.

Denn Arbeit gibt es genug.

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