[Öffentliche Meinungen] Ein Erfolg für Wikipedia? Zensur und OSN in der Türkei

Nach 990 Tagen Zensur ist die Wikipedia wieder ohne VPN-Client in der Türkei zugänglich – was mich als Wikipedianer natürlich freut, aber besonders freut es mich für türkische Userinnen, die das als Teilerfolg gegen das nervöse Regime verbuchen. Die Wikipedia ist ein höchst „gefährliches“ Instrument, vor dem sich sich Regime fürchten, die ihre Wirklichkeiten lieber selber schreiben und kontrollieren.

Ich bin aber ein bisschen skeptisch, wie groß dieser Erfolg wirklich ist… Aber was steckt hinter dieser Zensur? Bedeutet die Entsperrung der Wikipedia eine generelle Entschärfung der Zensur in der Türkei — obwohl das AKP-Regime noch immer an der Macht ist?

Denn einerseits ist seit Jahren schon ein Trend zu beobachten. Zumindest betrifft dieser Trend das AKP-Regime, nicht aber unbedingt das Russland-Net (Runet) oder die China-Wall: ich schätze, in Russland und China gibt es einfach mehr IT – Know How und einen generell höheren Bildungsstandard in diesem Bereich; Russland ist schon traditionell bekannt für Höchstleistungen im Tech-Bereich, IT-Entwicklung, Programmieren – so dass Russland keinesfalls auf Suchmaschinen wie Google angewiesen ist. China ist mittlerweile führender Tech-Hersteller und produziert hochwertige, eigene Produkte wie Smartphones, und andererseits nutzt es diese Spitzentechnologie zur Überwachung der kompletten eigenen Bevölkerung. Türkische Userinnen hingegen nutzen hauptsächlich die „westliche“ Internet-Infrastruktur. Es sind mir keine eigenen, nennenswerten IT-Projekte bekannt, die eine effektive, parallele „türkische“ Pseudo-Umwelt aufbauen könnten. Auch das „eigene Elektroauto“ basiert auf ausländischer Technologie.

Seitens des AKP-Regimes jedenfalls wird weniger „old school“ direkt zensiert als in den frühen Jahren der Online Social Networks (OSN) wie Youtube, Facebook, Twitter usw. Auch Wikipedia ist ein OSN: es ist aber komplizierter zu händeln, worauf ich gleich noch zurückkomme.

Am Anfang meiner Feldstudien gab es noch ständig Youtube-Sperren und andere Zensurmaßnahmen. Ich erinnere mich zum Beispiel an die Präsidentschaftswahlen am 30. März 2014, da war ich gerade mit einer Studentengruppe aus Berlin in Istanbul zu einem Kurzaustausch. Ich blieb noch für ein paar weitere Wochen dort, die Studenten sollten an diesem Tag nach Berlin zurückfliegen. Durch die hastigen Internet-Zensurmaßnahmen entstand fast ein Riesenchaos an den Flughäfen – auch, weil der damalige Premier spontan entschied, die Zeitumstellung dieses Mal nicht mitzumachen. Es wirkte fast wie gewolltes Chaos — oder aber wie die Botschaft: seht her, wenn ich will, halte ich auch die Zeit an.

Immer wieder war auch Youtube in dieser Zeit nicht abrufbar, wenn man nicht den VPN-Tunnel der FU benutzte. Ständig tauchte irgendein „beleidigendes“ Video auf: die offiziellen öffentlichen Meinungen der Pool-Medien verkündeten ihren Zorn, es wurde gesperrt.

Gerade Youtube wird in den letzten Jahren aber nicht mehr oder kaum noch gesperrt. Dort werden lieber selbst öffentliche Meinungen produziert, die auf Populismus, Selektivität und das Prinzip „Whataboutismus“ setzen; letzterer Begriff stammt aus der Beschreibung sowjetischer Propagandastrategien und kommt immer zuverlässlich dann zur Anwendung, wenn Einseitigkeit kritisiert wird.

Es ist kein Wunder, dass diese „Öffnung“ — bei gleichzeitiger Verschärfung der realen Zensur und Verfolgung von Akademikerinnen im Inland und im Ausland — nicht die Wikipedia (Vikipedi) betraf, sondern Youtube: bei Youtube können Bilder-cum-Text produziert werden, die eine viel größere Reichweite entfalten als ein Wikipedia-Artikel, und die außerdem geradezu auf die „westliche“ Infrastruktur angewiesen sind.

Alle offiziellen Propaganda-Kanäle von TRT, darunter auch der etwas missratene Al Jazeera-Abklatsch TRT World, betreiben eigene Youtube-Kanäle. Auch türkische TV-Serien werden postwendend über die OSN geteilt, meistens über Youtube.

Ich habe mir Hunderte von TV-Serienepisoden in voller Länge angesehen: alle über die OSN, meistens über Youtube. Daneben gibt es zwar auch eigene Plattformen wie Izlesene o.ä., womit man sich behelfen kann, wenn mal eine Episode bei Youtube fehlt. Diese stellen aber keine ernsthafte Alternative dar.

Auch Facebook und Twitter werden nicht geschlossen, sondern aktiv genutzt. Die Zensur findet verdeckter statt. „Neue Nachrichten“, das sind vor allem Kurzvideos oberflächlich recherchierter Nachrichten zu populären Themen (z.B. Palästina/Israel) mit kurzen englischen Untertiteln. In diesen Beiträgen überwiegt die Bildersprache ganz eindeutig, weshalb auch nicht unbedingt auffällt, dass der Bildreporter, der zum Beispiel aus Bosnien kommen kann, sein Handwerk nicht beherrscht. Man sieht das sehr eindeutig, wenn man sich ein solches Video betrachtet, aber den Ton abschaltet: der nicht-bildliche Inhalt reduziert sich weitestgehend auf die stenografischen Textinhalte, die als Schriftzüge eingeblendet werden.

Diese „Neuen Nachrichten“ werden über die OSN geteilt, geliked, kommentiert und im Sinne des Senders vervielfältigt: mit Nachrichten hat das nicht viel zu tun. Hier geht es in allererster Linie um die Produktion öffentlicher Meinungen. Die Meinungsproduzentinnen wissen, dass sie nur über die Infrastruktur aus dem Silicon Valley ihre weltweite Crowd erreichen können: nur so können sie sich über zigtausende bosnische, pakistanische, türkische und andere „Likes“ selbst feiern. Diese öffentliche Zustimmung ist bares Renommiergeld, das im Wahlkampf umgesetzt werden kann. Deshalb sind solche Regime auch so dringend auf „schlechte Nachrichten“ und die Beibehaltung eines glaubwürdigen Gut/Böse-Schemas angewiesen.

Die schlecht und einseitig informierten Userinnen bilden gemeinsam eine neuartige Pseudo-Umwelt eines geteilten „Wissens“ über Vorgänge in der Welt, die ihre Emotionen, Ressentiments und Frustrationen ansprechen. Sie können darüber das Gefühl ausleben, einer spräche endlich mal in ihrem Namen einen Notstand an, und die Dinge würden durch ihr Zutun (Liken, Teilen, Herzchen setzen, Gebetsformel schreiben etc.) besser. Letzteres ist zwar empirisch meines Wissens nicht nachweisbar — aber so wird eben geglaubt.

In diesen neuen, digitalen und rasant entstehenden Pseudo-Umwelten spielen Fakten keine nennenswerte Rolle; über Fehler des einen Mediums kann hinweg gesehen werden, während andere Medien zu „bösen Medien“ erklärt werden können. Ein junger bosniakischer Pop-Islamist, den ich inzwischen auf FB entfreundet habe, hat zum Beispiel im Verlauf der Rohingya-Vertreibungen und Massaker eine Bilderkollage geteilt, auf der buddhistische Mönche vor einem Massengrab zu sehen waren. Diese Bilderkomposition war in jenen Wochen sehr oft in den OSN zu sehen. Urheber der Bildkollage war irgendein pop-islamistischer Prosument, und das Ziel bestand darin, in Verbindung mit der ergänzenden Textbotschaft, einerseits das Regime von Myanmar zu kritisieren. Andererseits transportierte das Bild-Text-Paket aber auch die subtilere Botschaft, „die Buddhisten“ seien Mörder. Es kam heraus, dass es sich bei den Mönchen vor dem Massengrab um eine Szene aus dem Himalaya handelte, nach einem Unglück. Eine offensichtliche Manipulation — etwas ganz alltägliches in den OSN.

Der Mensch arbeitete im Medienbereich, wo er auch heute noch tätig ist, und zwar für ein türkisches Propaganda-Medium. Er verteidigte seinen Meinungsaktivismus, als ich ihn auf diesen und andere Widersprüche und Unwahrheiten ansprach: das sei solange in Ordnung, wie es auf der anderen Seite „zionistische Medien“ gab, und seiner Ansicht nach waren alle „westlichen Medien“ immer „zionistische Medien“. Zionismus gilt in pop-islamistischen Kreisen als das Böse schlechthin, wie ich bestimmt nicht hinzufügen muss. „Neue Nachrichten“ dienen also überhaupt nicht der Frage, wie die Dinge sind, und ob die Berichterstattung über diese Dinge nachprüfbar, ausgewogen und zumindest versuchermaßen neutral ist. „Neue Nachrichten“ folgen eher der Logik einer Fan-Crowd oder eines Fußballstadiums: auf der einen Seite Nachrichten für „die“, auf der anderen Seite Nachrichten für „uns“.

Wikipedia ist sehr viel schwieriger zu händeln und mit eigenen Meinungen vollzutexten als Youtube: wer einmal selbst an einem oder mehreren Wikipedia-Artikel mitgeschrieben hat, weiß, dass ein Text nie (?) nur von einer Person geschrieben wird. Und wenn es doch geschieht, kann dies aufgedeckt und verändert werden.

Die Wikipedia ist freilich nicht zu verherrlichen: sie weist ihre Mängel auf, und es gab immer wieder kritische Berichte über die Zusammensetzung der Wikipedianerschaft. Diese soll zum Beispiel sehr viel stärker aus Männern als aus Frauen bestehen, und außerdem soll sich mit der Zeit ein „sense for ownership“ unter älteren Wikipedianern herausgebildet haben.

Dennoch: die Wikipedia ist ein vergleichbar unbequemes OSN, das sich unter den gegenwärtigen Bedingungen schlechter für Propaganda und „Neue Nachrichten“ instrumentalisieren lässt, wie sie von Trash-Medien wie TRT World etc. kennzeichnend sind. Unter Wikipedia-Artikeln finden sich immer weiterführende Links, und wer mehrere Sprachen liest, kann außerdem die unterschiedlichen Perspektiven miteinander vergleichen. Wikipedia-Inhalte können zwar durchaus fehlerhaft sein (wie übrigens seriöse gedruckte Enzyklopädien auch), sie laden aber auch dazu ein, selbst auf Fehlersuche zu gehen und weiter zu recherchieren.

Übrigens ging gerade jetzt im Januar 2020 ein neuer türkischer TRT-Ableger auf Sendung: „TRT Deutsch“. Ein Schelm, wer hier einen Zusammenhang erkennen will zwischen der Öffnung der mehrsprachigen Wikipedia in der Türkei und der Öffnung eines deutschsprachigen, türkischen Propagandakanals.

Bildquelle:

Vikipedi’ye Türkiye’den erişimin engellenmesi,licensed under the Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0 International license, URL: https://tr.wikipedia.org/wiki/Vikipedi’ye_T%C3%BCrkiye’den_eri%C5%9Fimin_engellenmesi (zuletzt abgerufen am 16.1.2020).

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