Die emeritierte Professorin für Politikwissenschaft Füsun Üstel sitzt im Gefängnis. Ihr Verbrechen: wie mehr als 2000 Akademikerinnen hat sie im Januar/Februar 2016 eine Petition für Frieden und gegen Menschenrechtsverletzungen in Südostanatolien unterschrieben, die 2015/2016 dort begangen worden sind. Als ich 2017 an einem Workshop in einem geschützten Raum einer Istanbuler Universität teilgenommen habe, begann der Vortrag eines türkischen Teilnehmers mit einem Bild des vom Militär dem Erdboben gleichgemachten Stadtzentrums der südostanatolischen Stadt Nusaybin. Seine Aufgabe sei es, zuerst das offensichtliche festzustellen („stating the obvious„). Diese Worte, angesichts der (offensichtlich) zerstörten Stadt, sind mir in Erinnerung geblieben, weil die Verfügbarkeit einer „offensichtlichen“ Information über Grenzen hinweg alles andere als bewirken muss, die Dinge offensichtlich zu machen oder gar Bekundungen von Solidarität zu bewirken; so waren die Worte wohl auch gemeint.
Die Diskussion über die Medialisierung von Kriegen und das oft problematische Funktionieren oder Versagen von Bildern kennt man aus den ersten stark medialisierten und in Echtzeit übertragenen Kriegen (z.B. Irak 1991; Jugoslawienkriege 1991-1999). Die Über-Tragung von Bildern in öffentliche Meinungen, ihr „Meta-phorein“ hinüber in die Metapher, nimmt dabei oft und je nach Perspektive einen Verlauf über die „Master-Trope“ der Ironie. Ironisch am Fall der Wegsperrung Füsun Üstels und der (Un-)Offensichtlichkeiten in den öffentlichen Meinungen darüber sind aus meiner Sicht ganz besonders zwei Dinge, wie ich im Anschluss darstellen will: erstens, die Kriminalisierung einer Akademikerin, die sich für eine Friedensinitiative eingesetzt hat, sowie, zweitens, das Ausbleiben von Solidarität unter Akademikerinnen in Bosnien-Herzegowina, die sich ansonsten regelmäßig solidarisch „mit der Türkei“ äußern; mit dieser „Solidarität“ meinen sie aber am Ende sich selbst.
Füsun Üstel gehört zu jenen links-liberalen, kemalismuskritischen Akademikerinnen, die dazu beigetragen haben, alte Denk- und Redeverbote abzubauen und ihr Funktionieren verständlich zu machen. Es gibt zum Beispiel im kurzen Sammelband „Offizielle Ideologie und Kemalismus“ (Resmi İdeoloji ve Kemalizm), der nach dem gleichnamigen Symposium im Dezember 2009 entstanden ist, einen Beitrag von ihr zum Thema „Kemalismus als Staatsbürgerschaftsprojekt“ (Bir vatandaşlık projesi olarak Kemalizm). In diesem Beitrag problematisiert sie zum Beispiel den autoritären Nationalismus der 1930er Jahre, unter dem alle „Anderen“ gleich gemacht werden sollten. Sie zitiert zum Beispiel Mustafa Kemal Atatürks Adoptivtochter Afet İnan, die problematisiert hatte, dass es in der (damaligen) Türkei Menschen gegeben habe, die sich als Kurden, Tscherkessen, Lazen oder Bosniaken bezeichnen würden:
„Bugünkü Türk milleti siyasi ve içtimai camiasi içinde kendilerine Kürtlük fikri, Çerkezlik fikri ve hatta Lazlık fikri veya Boşnaklık fikri propaganda edilmek istenmiş vatandaş ve milletdaşlarımız vardır“ (S. 47)
Üstel kritisiert diese Gleichmacherei, und es ist bemerkenswert, dass die AKP-Regierung dieser Zeit die oben genannten ethnischne Kategorien „entproblematisiert“ hat. Initiativen der Regierung, wie etwa TRT Bosnisch einzuführen, wurden zwar von vielen Bosniakinnen in der Türkei eher belächelt; nach außen hin hat das Regime dadurch jedoch zur Imageproduktion einer „gemäßigt-konservativen“ Regierung beigetragen. Das AKP-Regime hat denkerische Unternehmungen und Dekonstruktionen also geduldet, aber nur bis zu einem bestimmten Maß, da es die Dekonstruktionen der alten Tabus für sich selbst nutzen konnte: bis es gemerkt hat, dass die Akademikerinnen einfach nicht aufhören zu denken, schreiben, dekonstruieren und kritisieren; also ihren Job zu tun.
Seit meinen Feldstudien 2015 in der Türkei wurden zigtausende Studierende, Akademikerinnen, Journalistinnen und weitere Textproduzentinnen öffentlicher Meinungen angeklagt, viele wurden eingesperrt. Der Fall des gefolterten Welt-Journalisten Deniz Yücel ist „nur“ der in Deutschland bekannteste Fall weggesperrter öffentlicher Meinungsäußerung. Andere haben ihre Sachen gepackt und sich auf den Weg ins Ausland gemacht, die nächsten bereiten sich darauf vor, weniger mobile Menschen gehen in die innere Emigration. Wer also die Sprache Wissenschaft, nämlich die kritische Methode, konsequent verwendet, darf diese denkerischen Unternehmungen unter unfreien Bedingungen nur zu einem Grad der erwünschten und oberflächlichen Kritik ausführen. Wer Füsun Üstels oben genannten Beitrag zu Ende liest, merkt jedoch schnell, dass es sich bei ihr keinesfalls um eine oberflächliche Kritikerin handelt, die sich ausschließlich mit der Kritik an früheren Verhältnissen befasst. Deswegen wurde sie schließlich weggesperrt.
Ich habe den oben genannten sowie weitere Beiträge von Füsun Üstel gelesen und nutze sie für meine eigene Arbeit, in der Staatsbürgerschaft eine wichtige Rolle spielt (es geht um Immigration aus Jugoslawien). Deshalb stehe ich besonders in der Verantwortung, mich zu äußern und gegen ihre Haft zu protestieren. Mich sperrt ja niemand deshalb weg.
Besonders ironisch finde ich jedoch eine weitere Erfahrung aus den Feldstudien, und zwar aus Bosnien-Herzegowina, wo bisher übrigens auch niemand wegen freier Meinungsäußerung einfach so weggesperrt wird. Ich hatte bereits 2016 Akademikerinnen (aus Bosnien-Herzegowina) auf die Verfolgungswelle ihrer Kolleginnen in der Türkei angesprochen, nachdem sich diese Personen mit Lobhudeleien des AKP-Regimes in öffentlicher Meinungsäußerung immer wieder und ohne jedes Wort der Kritik oder der nennenswerten Solidarität hervorgetan haben: ob im Fernsehen, ob in Zeitungskolumnen sogenannter „Poolmedien“ (als Poolmedien, havuz medyası, werden unfreie Zeitungen bezeichnet, die zu familial organisierten, regimegebundenen Holdings gehören und durch die Entgrenzungen der Digitalisierung zunehmend grenzübergreifend gelesen werden), ob in den Online Social Networks und anderen Formen von „E-Čaršija“, wie man den jezik*sprachigen Meinungsmarkt mit seinen typischen binären Stereotypen nennen könnte (der sich freilich nicht wesentlich von den Konjunkturen anderssprachiger E-Meinungsmärkte unterscheidet): kritisiert werden von diesen bosnischen Akademikerinnen immer nur „Andere“: der böse Westen, zionistische Verschwörungen, terroristische Organisationen, Israel, „die Schiiten“, usw.
Der Begriff „Solidarität“ wird zwar durchaus verwendet, teilweise sogar inflationär gebraucht: allerdings ausschließlich, um sich selbst gegenüber Solidarität einzufordern; um darauf aufmerksam zu machen, dass man in der Vergangenheit zu wenig Solidarität erfahren habe; oder, um darauf aufmerksam zu machen, dass die Regimevertreterinnen einem Solidarität ausdrückten. Deshalb soll dieses Regime „stark und stabil“ sein und darf machen, was auch immer es will. Diese Solidarität ist keine Solidarität im eigentlichen Sinne: es geht darum, das eigene Bedürfnis nach Schutz zu stillen. An diesem Beispiel wird noch einmal deutlich, wie verheerend sich die ausgebliebene Aufarbeitung und Versöhnung des Bosnienkrieges nach wie vor auswirkt. Die eingenommene und verständliche Opferrolle lässt nicht zu, anderen gegnüber solidarisch zu wirken.
Man kann, wie zur Probe aufs Exempel, wunderbar auf den Facebook-Walls dieser Menschen die zu erwartenden Reaktionen zu triggern. Diese Reaktionen treten mit der Verlässlichkeit eines Algorithmus in ihrer typischen, oben genannten Stereotypizität ein. Gleichzeitig wird hinzugefügt, man habe und nutze doch nur „das Recht auf seine eigene Meinung“. Unter dem „Recht auf seine eigene Meinung“ wird tatsächlich nur die eigene Meinung verstanden; alle anderen Meinungen werden dem gegenüberliegenden Meinungspol (oder, in Anlehnung an die Poolmedien: Meinungspool) der Binarität zugeordnet. Auch hier kann man wieder vortrefflich beobachten, was so typisch für die Produktion öffentlicher Meinungen in den Online Social Networks (OSN) ist: die OSN sind ausschließlich dafür vorgesehen, Herzchen und Likes zu gerieren. Die andere Seite ist böse, terroristisch, verschworen, gefährlich. Alle möglichen Diffamierungen können hier zum Einsatz kommen. Nichts wird durch diese extreme Verdichtung der Produktion öffentlicher Meinungen „offensichtlich“ gemacht.
Schon 2016 habe ich mir unter einem OSN-Posting anhören müssen, diese Menschen, nämlich die beklagten türkischen Akademikerinnen, die sich an der Aktion „Akademikerinnen für den Frieden“ (Barış için akademisyenler) beteiligt hatten, deren Namen schließlich in den Poolmedien einzeln veröffentlicht wurden, und die allesamt beklagt wurden, seien schließlich selbst schuld. Es wurden haarsträubende Vergleiche formuliert: auch Biljana Plavšić, Radovan Karadžić oder Franjo Tuđman seien doch Akademiker gewesen, an die man sich mit Grauen erinnerte. Für diejenigen, denen diese Namen nichts sagen: diese Personen waren Kriegsverbrecher und haben sich am Genozid gegen bosnische Muslime und andere Bosnierinnen sowie an der weitreichenden Zerstörung Bosnien-Herzegowinas beteiligt. Ja: Akademikerinnen können natürlich auch in Wort oder/und Tat zu Kriegsverbrecherinnen werden. Man weiß aus der Nazi-Zeit und unzähligen weiteren Zusammenhängen von Verbrechen, die von akademischer Hand geplant und durchgeführt wurden. Das war im Bosnien-Krieg nicht anders. angesprochen auf die „Offensichtlichkeiten“ der Zerstörungen und der Gewalt in Südostanatolien waren stereotype, ganz sicher gewusste Erklärungen schnell zur Hand: alles Terroristen, alles von den USA und von Israel unterstützt, alles Aktionen, die gegen Leute gerichtet seien, die nur nach der Zerstörung der Türkei trachteten. Ein Blick in die Poolmedien macht schnell klar, woher diese öffentlichen Meinungen kommen, die von Akademikerinnen vertreten werden.
Haasrsträubend daran ist ich nicht so sehr, dass Solidarität ausbleibt, weil darüber womöglich kein Wissen und keine Information über die Verfolgungen bestünde; Informationen sind freilich verfügbar, und darin bestünde theoretisch ein großer Vorteil der digitalen Verdichtung von Information. Aber Informationsaufnahme ist immer selektiv, bei uns allen, und je mehr Information über die digitalen Kanäle „hin- und herrennen“, desto selektiver wird die Informationsaufnahme. Daraus kann man ohne Probleme ein Gesetz formulieren. Eigentlich haarsträubend ist die Konstruktion von Wirklichkeit, an die anscheinend ernsthaft mit voller Überzeugung geglaubt wird, sowie die Vehemenz, mit der Kritik zurückgewiesen wird. Besonders betrüblich ist, dass die Kritik von Füsun Üstel und den anderen Akademikerinnen eine Form von Gewissensverweigerung darstellt, die zum Verbrechen erklärt wird. Das Recht auf Gewissensverweigerung – gebräuchlicher sind diese Worte im Englischen als Conscientious Objection oder auf Jezik* als Prigovor Savjesti – ist ein Menschenrecht.
Die Kriminalisierung öffentlicher Meinungen wird freien und unfreien Gesellschaften in Zukunft voraussichtlich noch sehr zu schaffen machen. Dieser Ausschnitt von Wirklichkeitskonstruktion über die stereotype Äußerung öffentlicher Meinungen – also sich durch „Meinungsäußerung“ zu Unterstützerinnen von Regimen zu machen, die gleichzeitig (andere) öffentliche Meinungen wegsperren – ist nämlich nur eine kurze Momentaufnahme einer weitreichenden „Verbildzeitigung“, wie man in Kürze wahrscheinlich auch bei den EU-Wahlen wieder wird sehen können. Mit der Wahrscheinlichkeit eines Algorithmus.
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