Angesichts der Claas Relotius-Affäre bin ich gegen ein generelles Bashing der Journalismusbranche, wie das Zitat ganz unten aus einem Telepolis-Artikel vielleicht zuerst suggerieren mag. Man darf und kann es sich nicht so einfach machen – und ich hoffe, dass der Spiegel die richtigen Konsequenzen zieht. Nach Jahren des Studiums wahrhaft toxischer Narrative lumpiger demagogischer Regime-Medien ist mir klarer denn je, wie wertvoll und wichtig echte journalistische Arbeit und Recherche sind. Echter Journalismus: es sei in diesem Zusammenhang insbesondere an die unschätzbaren Dienste der taz-Recherchen zum Hannibal-Skandal erinnert, für den sich leider nicht allzu viele andere Journalist_innen zu interessieren scheinen. Es geht darin, nicht mehr und nicht weniger, um die Aufdeckung eines rechtsradikalen Netzwerkes zwischen Bundeswehr, Bundesnachrichtendienst, Polizei. Diesem Netzwerk geht es, nicht mehr und nicht weniger, um einen gewaltsamen Putsch. Die taz schreibt:
„Nach einem Jahr fügt sich aus unseren Recherchen ein Bild, das keinen anderen Schluss zulässt: Überall in Deutschland, auch in Österreich und der Schweiz, haben sich Gruppen formiert, die daran arbeiten, einen eigenen Staat im Staate aufzubauen. Mitglieder in diesen Gruppen sind Polizisten und Soldaten, Reservisten, Beamte und Mitarbeiter des Verfassungsschutzes, die unter konspirativen Bedingungen einen Plan hegen: Wenn sie die Zeichen sehen, wenn „Tag X“ da ist, wollen sie zu den Waffen greifen.“ (Zum taz-Artikel)
Mir fehlt da ehrlich gesagt der laute „Aufschrei“ durch die weite Flur der deutschen Medienlandschaft. Das viel zitierte Medien-Attribut des Korrektivs einer Demokratie hat sich die taz für diese Rechercheleistung jedenfalls verdient: jede Demokratie braucht permanente Hinterfragung und Überprüfung ihrer Institutionen und Akteur_innen. Medien und Journalist_innen hingegen, die nur für ein bestimmtes Macht- oder Herrschaftsmodell schreiben, fallen in die Kategorie der lumpigen demagogischen Regime-Medien. Sie bilden quasi das journalistische Pendant zu den affirmativen Intellektuellen, die ich an anderer Stelle von den kritischen Intellektuellen oder einfach Intellektuellen unterschieden habe. Und: der Spiegel fällt natürlich nicht in diese despektierliche Kategorie, auch wenn ich es persönlich mit dem Spiegel ähnlich halte wie der Autor eines anderen Telepolis-Beitrages, der dem Spiegel „Entbehrlichkeit“ attestiert:
„Übrigens, der Fall Relotius ist keineswegs der Tiefpunkt einer 70-jährigen Spiegel-Geschichte, wie es die Chefredaktion schreibt. Der wurde bereits erreicht, als der Spiegel sich dem neoliberalen Mainstream anschloss, seine aufklärerische Haltung aufgab und damit entbehrlich wurde.“ (Zum Telepolis-Artikel)
Er lese den Spiegel nur noch im Wartezimmer seines Hausarztes, so der Autor. In meiner eigenen Kategorienwelt ist das Bahnhofsliteratur, die ich mir eher selten für unterwegs schnell kaufe. Hie und da durchaus lesbar. Entbehrlich? – Vielleicht. Aber nicht lumpig, nicht demagogisch und keinem einmännrigen Regime untertan.
Mit lumpigen demagogischen Regime-Medien habe ich mich jetzt jahrelang als wesentlichen Quellenteil meiner Recherchen beschäftigt, nämlich mit den sogenannten türkischen Pool-Medien des einmännrigen AKP-Regimes um ihren messianischen Führer Recep Tayyip Erdoğan. Der Begriff der Pool-Medien (türkisch: havuz medyası) hat sich in der kritischen türkischen Öffentlichkeit als Bezeichnung der regimehörigen Medien durchgesetzt, in denen nur geschrieben wird – nur geschrieben werden darf – was das Regime lesen will. Dazu gehören seit einigen Jahren aber auch Medien außerhalb der Türkei, zum Beispiel die nicht weniger lumpig-demagogischen Ableger in Bosnien-Herzegowina. Namentlich fallen in diese Kategorie die vom AKP-Regime in die Welt gesetzten, die public opinions der bosnischen Čaršija (dem „Markt der Meinungen“) mitgestaltenden Schmuddelseiten (bzw. -Blätter) Faktor und Stav. Dazu gehören aber auch die pseudo-kosmopolitisch daher kommen wollenden (weil seit kurzem mehrsprachigen) Nachrichtenagenturen Anadolu Agency (AA) oder diverse Ableger des staatlichen (d.h. der Partei gehörenden) öffentlichen Rundfunks TRT. Letztere haben ihre Tätigkeiten auf dem Balkan ausgebaut, wo z.B. AA seit 2012 ein eigenes Büro betreibt. Sie üben sich in eher schlecht geratener CNN oder Aljazeera-Imitation, wodurch sie eine globale, „pop-islamistische“ Crowd erreichen wollen. Was ihnen im übrigen auch gelingt.
Freilich hätte ich mich nur umblicken müssen, und mir wären überall sonst in Europa oder anderswo ebenso lumpig-demagogische Medien aufgefallen. Aber so sind die Bohnenkerne gefallen, wie es auf Jezik* so schön bohnenoraklerisch heißen könnte. Ihnen – den lumpigen demagogischen Regime-Medien – allen gemein ist ein doppeltes Prinzip, das den Claas Relotius-Reportagen allerdings auch zugrunde liegt: 1) sie kommen auch weitestgehend ohne ernsthafte Recherchen aus, und 2) sie produzieren Narrative, die genau so gelesen werden wollen, und deshalb auch so erfolgreich sind. Wie dieser Erfolg aussieht, ist in Likes und Shares abbildbar, ist an den Beispielen der Journalismuspreise für Herrn Relotius aber auch schön verdinglicht und weiter „empirisch beschreibbar“, also auch außerhalb des redaktionellen Backends, wo die glänzenden Clickzahlen als eigentliches Rauschgold des lumpig-demagogischen Höhenflugs eingesehen werden können.
Besonders zum letzten Zusammenhang – nämlich zu lesen zu bekommen, was (zu lesen) gewollt wird – fallen mir keine einfachen Lösungen ein. Nur ein paar komplexere Überlegungen, zum weiterdenken.
Oft habe ich mich gefragt, warum sogar einige intelligente, ansonsten kritische Menschen lumpig-demagogisches produzieren, lesen und auch noch gegen Hinterfragung verteidigen. Manchmal geht es um eine subtile Form der Korruption und geistigen Unfreiheit. In Bosnien-Herzegowina zum Beispiel dann, wenn ein_e Leser_in oder Schreiber_in einer Art Unsicherheitsangst verfallen ist und eine Opferrolle verinnerlicht hat, welche die lumpigen demagogischen Medien bestens kennen und instrumentalisieren, und denen sie mit angeblicher Sicherheit bzw. Sicherheitsversprechen begegnen. Um dem etwas entgegenzusetzen, müsste erst einmal ein alternatives, handfestes Sicherheitsversprechen her, wie zum Beispiel Human Security. Dieses auf dem Stand der späten 1990er Jahre verhaftete Konzept könnte weiterentwickelt werden, und es besteht dazu auch eine relativ produktive NGO-Arbeit. Ansonsten spielt es aber keine große Rolle, weil das Thema Sicherheit insgesamt dem rechten Spektrum überlassen worden ist, und diesem kommt „in eigener Sache“ nichts gelegener, als die permanente Reproduktion von Unsicherheiten. Aber immerhin ist das Problem gut erfassbar. Ansatzpunkte lägen auf der Hand.
Viel komplizierter ist es im Fall der Betrügereien des Spiegel-Reporters Claas Relotius. Hier, beim Spiegel, handelt es sich nicht um ein lumpiges demagogisches Medium an und für sich. Das wird allein an der vom Spiegel selbst angestrengten Offenlegung des Skandals sichtbar. In den von mir bekannten lumpigen demagogischen Medien wäre die Aufdeckung und Problematisierung der zum Geschäftsmodell gehörenden Praxis von Lug und Betrug völlig undenkbar! Wagt man es, die für nicht-eingepoolte Leser_innen allzu offensichtlichen Lügen, Fehler und Unterlassungen anzusprechen, muss man zuallererst mit schweren Beschimpfungen und Bedrohungen seitens der Leser_innenschaft rechnen, die so etwas verdammenswert findet und als persönlichen Angriff auffasst. So habe ich einmal die einseitige Berichterstattung eines lumpigen demagogischen Mediums auf der Facebook-Wall einer eifrigen bosniakischen Erdoğanistin angesprochen, um sogleich von einem männlichen (türkischen) Prosumenten beschimpft zu werde: ich nähme mir wohl eine ganze Nation zum Angriffsziel. Lumpige demagogische Medien brauchen sich um Fragen wie wahr und falsch, recherchiert oder nicht recherchiert also kein bisschen zu scheren – weil sich auch sonst niemand um so unerfreuliche Details kümmert, und die prosumentische Leserschaft nichts anderes als polarisierende, aufpeitschende Hetzartikel erwartet. A propos Recherche und Belege: ich hatte mir damals übrigens überlegt, diese Bedrohung via Screenshot zu kopieren und als Quellenmaterial zu verwenden, mich dann aber dagegen entschieden, weil der „Ort“ des Geschehens von der Privatsphäreeinstellung der Sarajevoer Erdoğanistin eingehegt war. Aber ich bin mir sicher, dass sich jede_r, die/der sich schon einmal durch die prosumentischen Kommentarleisten einer x-beliebigen Nachrichtenseite geklickt hat, lebhaft vorstellen kann, wovon ich spreche. Das Problem bei der Relotius-Affäre ist anders gewichtet: die Entstehungsbedingung des jahrelangen Anwachsen eines solchen Berges von Lug und Betrug scheint vor allem dem Gefallen an der Schreibe, also ästhetischen Codes, geschuldet gewesen zu sein. Die Spiegel-Chefredaktion selbst hat in ihrer Stellungnahme (Wie das SPIEGEL-Sicherungssystem an Grenzen stieß) ein Beispiel zitiert, da schreibt Relotius von einer Nacht „ohne Mond“
An einem späten Januarabend, der Himmel über Joplin, Missouri, ist ohne Mond, verlässt eine kleine zierliche Frau ihr Haus, um einen Mann, den sie nicht kennt, sterben zu sehen. Sie verriegelt die Tür, dreht den Schlüssel dreimal um, dann geht sie eine menschenleere Straße entlang, zum Busbahnhof. Sie besorgt sich ein Greyhound-Ticket für 141 Dollar nach Huntsville, Texas, und zurück. Sie hat nur eine Handtasche und einen leichten Rucksack mit einer Bibel, einer Zahnbürste und ein paar Keksen als Proviant dabei. Gayle Gladdis, 59, eine Frau mit schulterlangem Haar und Perlenohrringen, plant, nicht länger als 48 Stunden unterwegs zu sein, um das Böse aus der Welt zu schaffen. (Zum Spiegel Online Artikel)
Hört sich das nicht toll an, will man da nicht unbedingt weiterlesen, wie es in dieser „mondlosen Nacht“ weitergeht? Auf dieses Detail wird nicht näher eingegangen, sondern „nur“ auf die vielen anderen fiktiven Elemente und Fehler. Das Prinzip „was gefällt wird geschrieben“ hat aber auch zur Folge, dass was nicht gefällt auch nicht geschrieben wird. Und so kommt es, wie im Zitat des Telepolis-Beitrags unten festgestellt, dass im Duktus des nihil de mortuis nisi bene über die Kriegsverbrechen eines US-Präsidenten (Bush sr.) nicht geschrieben wird, weil das nicht gefällt. Freilich mag der Grad der Verlumpung amerikanischer Spitzenpolitik, über die Eskalationsstufe des Bush-Sohns, die Verniedlichung Hillary Clintons, bis hin zum gegenwärtigen Trash-Präsidenten eine Rolle spielen. Fast warte ich darauf, eine Lobeshymne auf seinen Sohn, Rumsfeld, Cheney etc. zu lesen. Abschließend noch das Zitat aus Telepolis:
„Relotius tut nichts anderes als das, was von ihm erwartet wurde: Geschichten zu liefern, die das erwünschte Narrativ bedienen, regelmäßig Klickzahlen zu liefern und unerwünschte Beiträge zu vermeiden. Letzteres ist fundamental, denn nicht ein einziger deutsche Journalist erwähnte die Kriegsverbrechen eines US-Präsidenten, dem Deutschland die Reibungslosigkeit der Wiedervereinigung mitzuverdanken hat (Auf den Hund gekommen). So bedachte man etwa Relotius mit dem Deutschen Reporterpreis für ein wohlfeiles Rührstück über einen syrischen Jungen, der angeblich meinte, durch einen Streich den Bürgerkrieg ausgelöst zu haben.“ (Zum Heise/Telepolis-Artikel)