Mythenanalyse und religiös verbrämte Tropen
Die Ordnung meiner geplanten Beitragsserie über Antisemitismus, Sorosphobie und Neo-Re-Bewegungen gerät etwas ausführlicher und anders als ursprünglich geplant. Um mich der Frage anzunähern, wie und wieso Antisemitismus und Sorosphobie in Neo-Re-Bewegungen so „gut“ funktionieren, und warum es, auch nach den unsäglichen Verbrechen der Nazis, immer noch möglich ist, mit antijüdischen und antisemitischen Stereotypen zu mobilisieren, gilt es erst einmal, sich über den Umweg der Mythenanalyse mit der Wirkmächtigkeit religiös verbrämter Stereotypen zu beschäftigen.
Wie in den folgenden Beispielen noch zu sehen sein wird, können nicht nur Juden, sondern alle Anderen über Stereotypen problematisiert werden — was für die Problematisierten besonders heikel zu verlaufen droht, wenn die Stereotypisierungen in einem mehr oder weniger direkten Verhältnis zu den angsteinflößenden Tropen des hegemonischen religiösen Glaubenssystems stehen, das jeder Aussage eine transzendente Tiefe verleiht und daran erinnert, dass hinter allem Daseinssinn immer noch die unbewältigte Kontingenzfrage droht: niemand weiß, wohin die Reise geht; und noch weniger wüsste irgendjemand irgendwohin – wüsste nicht das Glaubenssystem ganz genau Bescheid.
Um zu verstehen, woher diese bald deutliche, bald sehr diffuse Ähnlichkeit zwischen den Stereotypen der „Anderen“ und den weit verbreiteten Tropen religiöser Glaubenssysteme kommt, muss man sich zuvor aber noch darüber bewusst werden, was eigentlich gemeint ist, wenn wir von Stereotypen und von Tropen sprechen. Das will ich als nächstes kurz abhandeln, um im Anschluss zu einem Beispiel stereotypisch-tropischen Hin- und Hers aus dem ehemaligen Jugoslawien zu kommen, das besonders gut erforscht und beschrieben worden ist. Mit Hilfe dieses Beispiels will ich letztlich zu Verallgemeinerungen über die Funktion von Mythen gelangen, die sich als eigenartigste Textgattung des eigentlichen Dis-currere des Diskurses dadurch auszeichnen, dass sie ihre gesamte Struktur dem Hin- und Herrennen von stereotypen Tropen verdanken. Ohne das Verständnis der Funktionsweise von Mythen ist wiederum das sich Bewegen der Neo-Re-Bewegungen nicht zu begreifen, da in den Neo-Re-Bewegungen mythische verbrämte Geschichten der Vergangenheit (d.h., das Re des Neo-Re) mithilfe der zeitgenössischen Entgrenzung und kosmopolitisierten Medien (d.h. dem Neo des Neo-Re) in nie dagewesener Reichweite durch die Diskursgründe des WWW „hin- und herrennen“.
Das tropische Hin- und Her der Stereotypenmetapher
Wie ich andernorts bereits erörtert habe, ist der Begriff der Stereotype selbst eine Metapher, und damit eine Trope. Es geht mir hier deshalb nicht nur darum, zu ergründen, was oder wer gemeint ist — also das Signifikat — wenn eine Stereotype wie der Jude, der Albaner oder der Türke verwendet wird; es geht mir auch darum, zu ergründen, was eine Stereotype bzw. eine Trope eigentlich ist, wie sie funktioniert und wie sie folglich von Sprecherinnen verwendet werden kann. Im Folgenden noch einmal kurz zum Funktionieren bzw. Hin- und Herrennen von Tropen:
Unter Tropen werden Metaphern, Metonymien, Synekdochen und Ironie verstanden. Die Stereotype ist allein deshalb eine Metapher, weil wir ihre Verwendung dem Journalisten Walter Lippman verdanken, der sie 1922 in seinem Buch Public Opinion aus der Beschreibung des Druckprozesses damals verwendeter Druckerpressen abstrahiert und geprägt hat, indem er einen außersprachlichen Vorgang in eine begriffliche Form übersetzt hat. Damalige Druckerpressen funktionierten durch das aufdrucken in Metall gepresster Lettern, die man Stereotypen nannte. Durch diese Übertragung in eine Begriffsform war also mit der Stereotype fortan noch etwas anderes zu verstehen, als das bislang beschriebene Signifikat des metallischen Bestandteils einer Druckerpresse: eine neue Metapher war geschaffen, mit der man benennen konnte, was sprachlich geschah, wenn wiederkehrende und vereinfachende „Bilder“ oder Übertragungen aus der nicht-narrativen Wiriklichkeit in die Sphäre der Begriffe verwendet wurden, die wie eine Drucker-Stereotype von immer gleicher Gestalt und doch vielfältig und beliebig vervielfältigbar war.2
Allen Metaphern und anderen Tropen ist ihr vielfaches Hin- und Herrennen gemein, was sogar durch die Bezeichnung Trope selbst ausgedrückt wird; die Trope selbst ist eine Metapher: sie stellt die begriffliche Fassung des besonders von viel herumkommenden Seefahrern beobachteten, für „wahr“ gehaltenen Hin- und Herrennens der Sonne zwischen den „Wendekreisen“ dar. Daher rührt auch die etwas verwirrende Übereinstimmung des sprachlichen Phänomens der Tropen mit den geographisch-klimatischen Tropen, also jener wärmsten Klimazone, die zwischen den „Wenden“ (tropoi) liegt, wo die Sonne (angeblich) hin- und herrennt. In anderen Worten: Stereotypen, genau wie alle andere Tropen, sind deshalb Tropen, weil sie zwischen zwei Gegensätzlichkeiten „hin- und herrennen“. Dies ist auch der Grund, warum tropische Stereotypen nicht ohne ein Werturteil oder versteckte Attribuierung „daher rennen“: sie korrelieren mit Gegensatzpaaren wie schwarz/weiß, oben/unten, gut/böse, richtig/falsch, männlich/weiblich und so fort.
An und für sich sind Tropen, auch Stereotypen, nicht unbedingt ein Problem. Es gibt sie, alle Menschen verwenden sie, und es ist im wortwörtlichsten Sinne unvorstellbar, „sich einen Begriff machen zu können“ von der Welt, ohne die Welt durch Über-Tragung, ohne das meta-phorein der Metapher, das trans-ferre der trans-latio „in Begriffe zu gießen“. Niemand findet es skandalträchtig, wenn eine Sozialwissenschaftlerin zur Beschreibung eines Machtverhältnisses, wie des auf Ungleichheiten, Hierarchien und physischen Merkmalen basierenden Rassismus, den Begriff der Stereotype verwendet, oder das Signifikat einer Stereotype wie den weißen Mann verwendet. Problematisch wird eine auf Stereotypen basierende Sprache aber dann, wenn führerhafte Personen – sie werden in diesem Beitrag zunächst an einem Beispiel als Demagogen zu beschreiben sein – aus nicht-religiösen, politischen, oder aus hochexplosiven „gemischten“ religiös-politischen Feldern das Machtpotential erkannt haben, das sie durch den Gebrauch stereotypischer Sprache entfalten können. Demagogen scheinen um die (einfache) Möglichkeit der Gebrauchbarmachung verbreiteter religiöser Texttropen zur Mobilisierung von Massen genauestens Bescheid wissen.
Woher wissen Demagogen eigentlich so genau und sicher Bescheid?
Demagogen sind zunächst einmal nichts anderes als besonders begabte, besonders öffentlichkeitswirksame Stammtischredner, die sich selbst als Stimme des Volkes, als vox populi, ausgeben; der Teilhabe der Medialisierung an ihrem gegenwärtigen Höhenrausch wird noch beizukommen sein. Als „Stimme des Volkes“ wird ihnen oft ein gewisser Instinkt, eine Art „Bauernschläue“ nachgesagt — und es mag sein, dass sie gar keine Anleitung lesen müssen, um zu spüren und zu wissen, wie Menschenmengen aufzubringen, aufzupeitschen und zu mobilisieren sind. Unter „Begabung“ fällt bei besonders erfolgreichen Demagogen aber auch eine Eigenschaft, die als Aura, Charisma oder Nimbus bezeichnet worden sind, wie ich später im Text (und wahrscheinlich nicht mehr in diesem Beitrag) noch erörtern will. Im folgenden will ich aber zunächst etwas weit ausholen, um ein Beispiel eines ersten Demagogen auszubreiten: es ist das Beispiel des 2006 in der Einsamkeit einer niederländischen Gefängniszelle an einem Herzinfarkt gestorbenen, serbischen Demagogen Slobodan Milošević. Ich will das Beispiel seiner Demagogie deshalb so ausführlich darstellen, weil sie einerseits zahlreiche Parallelen aufweist zu den vielen neuen Demagogien des Neo-Re, und weil die Demagogie des Slobodan Milošević andererseits ein sehr gut verstandenes, viel studiertes und außerdem zeitlich recht junges Phänomen von Demagogie darstellt. Deshalb bietet es sich als „case study“ besonders gut an, um über die gemeinsame Betrachtung hevorstechender Parallelen zu anderen Demagogien verallgemeinernde Rückschlüsse zu ziehen, um so endlich den nervösen Treibereien und Wandfahrten etwas entgegenzusetzen.
Lektionen aus Ex-Jugoslawien: Stammtischreden, Ereignen des Volkes, Meetings
Über den serbischen Führer Slobodan Milošević wurde ausführlichst beschrieben, wie nicht nur er auf die Massen – sondern wie die Masse auch auf ihn gewirkt hat. Seit einer Reise ins Kosovo 1987 begriff Slobodan Milošević die Macht des nationalistischen Imperativs. Dort verspürte er zum ersten Mal die Aura der Macht, die von ihm ausging, als er zu aufgebrachten Demonstranten sprach: „Niemand darf euch schlagen!“. Fortan waren alle „Meetings“, die er abhielt, von scharfen, nationalistischen Aussprüchen gekennzeichnet. Diese „Meetings der Wahrheit“ mit dem erklärten Ziel der „Vereinigung Serbiens von Horgoš bis Dragaš“ (also vom nördlichsten bis zum südlichsten Punkt Serbiens) fanden immer häufiger an verschiedensten Orten Serbiens statt. Allein im Zeitraum von Juli 1988 bis in den Frühling 1989 hinein wurden an die Einhundert derartiger Meetings abgehalten, an denen insgesamt schätzungsweise fünf Millionen Menschen teilnahmen. Den Höhepunkt der Instrumentalisierung nationalistischer Tendenzen durch Slobodan Milošević stellte vorerst die Rede von Gazimestan am 28.6.1989 zur 600 – Jahr Feier der Schlacht auf dem Amselfeld dar: vor 500 000 Serben spricht er auf dem zum Ort serbischen Martyriums verklärten historischen Schlachtfeld von bereits geführten und noch bevorstehenden Schlachten – von denen man noch nicht genau wissen könne, ob sie bewaffnet oder unbewaffnet ausgetragen werden würden.3 Somit waren „die Reifen vom Fass, in welchem das Gespenst des Nationalismus gefangen war, abgeschlagen“.4
Es ist möglich, dass der Krieg in Jugoslawien ohne diese Rede nicht ausgebrochen oder zumindest nicht in dieser Form verlaufen wäre, was freilich nur eine ahistorische Spekulation darstellt. Jedenfalls wird diese Rede, völlig zu Recht und ohne jede Übertreibung, als wichtige Wegmarke im gesamten Prozess des lange andauernden „Sich-Ereignen des Volkes“ (događanje naroda) erinnert, im Laufe dessen sich das Volk wiederholt zu großen Meetings gerottet und sich für die kriegerische Errichtung eines „Großserbiens“ ausgesprochen und schließlich zu den Waffen gegriffen hat.
Das Ergebnis ist bekannt: nicht nur wurden aus Worte Taten, nämlich Krieg. Das Serbien nach diesen Kriegen, wie ich es zum ersten Mal im Jahr 2001 und später wiederholt bereist habe, war ein völlig heruntergewirtschaftetes, in vielerlei Hinsicht „zurückgebliebenes“ Land, dem jahrelange Isolation und kriegerischer Ultranationalismus deutlich anzumerken war. Nicht ganz ohne Ironie fiel mir diese graue „Zurückgeworfenheit“ damals ganz besonders im Vergleich zum sehr viel weltoffeneren, aber auch sehr viel provinzielleren Bosnien-Herzegowina auf, das in der Folge der Veitstagsrede auf dem Amselfeld den größten Blutzoll zu entrichten hatte.
Es soll an dieser Stelle nicht vewirren, dass auf der viel zitierten Rede von Slobodan Milošević nicht etwa Juden problematisiert wurden, sondern Albaner, und indirekt die Stereotype der Türken oder Vertürkten. Aber zunächst zum Rahmen: Die Rede fand in einer der ärmsten (bzw. der ärmsten) Regionen Jugoslawiens statt, nämlich der bis in das Jahr 1989 autonomen Region Kosovo, die hauptsächlich von muslimischen Albanern bewohnt war (und ist), und deren Autonomie der serbische Tribun noch im selben Jahr abschaffen würde. Gleichzeitig ist das Kosovofeld, eine steppenhafte Ebene vor den Kulisse des „verfluchten Gebirges“ (Проклетије/Bjeshkët e Nemuna) Montenegros und Albaniens der Ort, an dem die historische und mythisch verklärte Schlacht auf dem Amselfeld 1389 stattfand, auf welcher der serbische Fürst Lazar und der osmanische Sultan Murat ums Leben gekommen sind. Sie wird als Beginn der „Türkenherrschaft“ erinnert, was im lokalen Kontext keineswegs eine „falsche“ Bezeichnung für die „osmanische Herrschaft“ ist: es ist so gut wie nie die Rede von „osmanischer Herrschaft“, was ein eher westliches und modernes türkisches Konstrukt darstellt. Dieser geschichtliche Aspekt, der Verlust nicht nur des Kosovos, sondern ganz Serbiens an „die Türken“, der in der Volksepik und in nationalistischen Textkorpora erzählt wird, ist unter dem Oberbegriff des „Kosovo-Mythos“ bekannt, und er kann als vortreffliches Beispiel eines verdichteten mythischen „Tropen-Clusters“ betrachtet werden, in welchem alle nur denkbaren Archetypen und Stereotypen aus dem Mischbereich mythischer und religiöser Systeme auftauchen: Verrat, Bruderschaft, Heldenmut, Martyrium, das himmlische Volk, Ausgewähltheit, Treue, usw.
Bemerkenswert am Kosovo-Mythos ist, dass er durch kritische serbische Intellektuelle ausführlich beschrieben und analysiert worden ist. Mir persönlich ist kein anderer Fall eines modernen Mythos bekannt, der so vortrefflich beschrieben und verstanden worden ist, wie der Kosovo-Mythos. Ivan Čolović schreibt über die Rede Slobodan Miloševićs:
Fürst Lazar war nicht die Hauptperson bei der Gedenkveranstaltung des sechshundertsten Veitstages auf dem Kosovo. Die Leute, die sich am 28. Juni 1989 in Gazimestan zusammengefunden haben (sjatili se) — laut der Nachrichtenagentur Reuters waren es ihrer sechshunderttausend, nach serbischen Medienberichten sogar zwei Millionen — sind nicht wegen ihm [Lazar] gekommen, sondern um den neuen serbischen Führer Slobodan Milošević zu sehen und zu hören, der an diesem Tag per Helikopter an den Ort der Kosovoschlacht angereist ist, um dort sein später viel zitierte Rede zu halten. die Rolle Lazars bestand darin, die Werbung für Milošević zu befeuern, weil die Führung der serbisch-orthodoxen Kirche, die ihm diese Rolle zugeteilt hatte, in diesem Moment selbst viel begeisterter über den neuen serbischen Führer als über den alten Lazar war.5
Milošević’s Bund mit der traditionellen Religionsgemeinschaft der serbisch-orthodoxen Kirche, die sich selbst als Rückgrat des Serbentums auch durch die „türkischen“ Jahrhunderte hindurch versteht, war aber im Vergleich zu seinem aus Montenegro stammenden „Kollegen“ und Kriegsverbrecher Radovan Karadžić, dem Führer der bosnischen Serben jenseits der Drina, eher unterkühlt:
Und trotzdem: wie sich bald herausstellen sollte, konnte es die Kirche Milošević nicht verzeihen, dass er in seiner Rede den Fürst nicht einmal erwähnte, noch dass er Anstrengungen unternommen hätte, in der Kirche des Heiligen Nikolaus in Priština vorbeizuschauen, um seinen Reliquien zu huldigen, die an jenem Tag dort aufbewahrt wurden. Das würde einer der Gründe sein, weshalb sich in den folgenden Jahren die Beziehungen zwischen der serbisch-orthodoxen Kirche (SOK) und dem Oberhaupt des serbischen Staates abkühlen sollten. Als die bewaffneten Schlachten aus Milošević’s Rede auf die Kriegsschauplätze umzogen, nach Slowenien, Kroatien und Bosnien, haben die Episkopen der SOK den Bund mit Milošević aufgelöst und sich Radovan Karadžić und dessen Kreation namens Serbische Republik (Republika Srpska) zugewandt, wo sie eine sehr viel wichtigere Rolle in der Gestaltung des dortigen politischen und gesellschaftlichen Lebens bekommen haben.6
Im Programm der SPS, der Partei Slobodan Milošević’s, wurde der Kosovo – Mythos verankert. So heißt es beispielsweise im Programm von 1992:
Kosovo und Metohija sind ein nicht abtrennbarer Teil Serbiens, der wegen seiner Natur- und Kulturgüter in der Geschichte nicht nur eine gewaltige unmittelbare politische, sondern auch eine außergewöhnliche symbolische Bedeutung für das serbische Volk hat. Allerdings war dieses Gebiet lange Zeit besetzt und in beträchtlichem Maße von albanischer Bevölkerung besiedelt, doch zu guter Letzt wurde es befreit und fiel dauerhaft dem serbischen Staat zu. (…)7
Der Aufstieg eines Demagogen: Slobodan Milošević
Der Aufstieg und die Herrschaft Slobodan Milošević’s und seiner Partei SPS war ursprünglich Angst und Unsicherheit geschuldet: laut einer politischen Meinungsumfrage durch das Institut für politische Studien in Belgrad vom 20. – 29. Oktober 1990, an der sich 900 Personen aus der SR Serbien beteiligt haben, äußerten sich 27,5 % der Befragten „in Angst versetzt“, 66,4 % „besorgt“, glaubten aber gleichzeitig, sich mit der entsprechenden Führung aus dieser Lage befreien zu können – was Marija Obradović als „Messias – Syndrom“ bezeichnet hat.8 Milan Milošević hat diese Angst spezifischer als Angst vor dem Verlust des Staates formuliert, indem er sich auf die Untersuchungen von Dragan Lakićević, einem Mitarbeiter des Institutes für europäische Studien, bezieht: dieser geht vom mittelalterlichen Begriff des horror vacui aus – der Angst vor Leere. Demnach sei das existenzielle Grundbefinden der Serben in den 1980er Jahren durch ihre Angst vor dem Verlust „ihres“ Staates bestimmt gewesen, die ihre Wurzeln in der langen Geschichte von Fremdbestimmung und Kriege habe. In der Folge sei der autokratische Herrscher nicht in Frage gestellt worden, solange er nur für fähig gehalten wurde, das Fortbestehen des Staates garantieren zu können.9
Die Katastrophe für das serbische Volk stellte nach dieser Sichtweise nicht ein autoritäres, das Volk entmündigende Regime dar, sondern der Verlust der staatlichen Souveränität. Weit verbreitet war auch die Bereitschaft des Volkes, an eine Verschwörung als Ursache allen Unglücks zu glauben. Nach einer Untersuchung des Instituts für politologische Studien aus dem Jahr 1993 glaubten 55,2% der Bürger Serbiens völlig, 23,7% teilweise daran, dass es „gegen Serbien eine umfassende, wohlorganisierte Verschwörung gibt, an der viele Länder beteiligt sind“.10 Laut Milan Milošević konnte sich das Regime durch frontale Vermittlung, die SPS alleine sei in der Lage, diese Krisen zu bewältigen, gegen massiven Widerstandes der Opposition und der Öffentlichkeit dennoch immer sicher sein, einen ausreichenden Teil der Wähler hinter sich zu wissen. Deshalb erscheint seine Einschätzung, dass es sich dabei um einen „plebiszitären Cäsarismus“ gehandelt habe, um eine treffende Einschätzung, der wir auch an anderer Stelle wieder begegnen werden.11
Als wichtige Grundlage für die weitere Ausbreitung des Nationalismus diente nach Auffassung des Psychologen Mikloš Biro die Prägung des autoritären postkommunistischen Persönlichkeitstyps, wie er für die Gesellschaft Serbiens üblich war. Seiner Ansicht nach ersetzte in der postkommunistischen Ära der Nationalismus die früheren sozialistischen Werte als Identifikationsmittel, da durch deren Verlust die allgemeine Sicherheit des Individuums gefährdet war. Der Nationalismus als Gefühl (kollektiver) Stärke schaffte es, das Gefühl (individueller) Schwäche und Leere zu kompensieren.12
Obwohl der Nationalismus im Ganzen gesehen keine weit verbreitete Ideologie unter der serbischen Bevölkerung war, ist Holm Sundhaussen doch von einer Grundlage verbreiteter antialbanischer Ressentiments und latentem antialbanischem Rassismus in der serbischen Gesellschaft ausgegangen – ein Bild der Gesellschaft, das durch andauernde antialbanische Medienkampagnen in den 80er Jahren (der sog. „Fall Martinović“ von 1985, die „Petition der 2016“, u.ä.), und schließlich durch das sogenannte Memorandum der Serbischen Akademie der Wissenschaften und Künste (SANU) von 1986, unterstützt wird.13 Marie-Janine Calic sieht in jeder multiethnischen Gesellschaft das Potential politisch mobilisierbarer und instrumentalisierbarer ethnischer Stereotypen und nationalistischer Feindbilder, deren man sich besonders im Falle einer unbewältigten Geschichte problemlos bedienen konnte. Genau dies geschah in Serbien.14
Politische Ebnung
Die Belgrader Soziologin Vesna Pešić hat in der serbischen Krise drei wesentliche Brennpunkte beschrieben: die Verfassungslage, die „ethnische Drohung“ und die antidemokratische Koalition. Während des gesamten Prozesses der Machtergreifung des Slobodan Milošević, der von 1986 bis 1989 dauerte, spielten alle drei genannten Punkte eine zentrale Rolle.
Das Problem, das Serbien mit der jugoslawischen Verfassung von 1974 hatte, lag auf der Hand: gemäß der Souveränitätsbestimmungen für die autonomen Provinzen Kosovo und Vojvodina war die SR Serbien durch die „Souveränität“ ihrer Provinzen (die Provinzen genossen fast völlig gleiche Rechte und Pflichten wie die Republiken) kein „souveräner“ Verhandlungspartner wie die anderen Republiken. Dieser Umstand führte zu allgemeiner Unzufriedenheit in Serbien, wo die Stimmung vorherrschte, in seinem Recht beschnitten zu sein. Dessen war sich nicht nur Milošević, seit 1986 Vorsitzender des Zentralkommittees des Bundes der Kommunisten Serbiens (SKS), sondern auch der serbische Staatspräsident Ivan Stambolić bewusst, der versuchte, im Einklang mit den übrigen Mitgliedern der Föderation eine Lösung für dieses Problem zu finden.15
Da sich dieser Prozess jedoch sehr langwierig und schleppend gestaltete, sah Slobodan Milošević darin eine Gelegenheit, seine innerparteiliche Gegnerschaft auszuschalten: am 23. September 1987 musste Ivan Stambolic, dem Milošević seine bisherige Karriere zu verdanken hatte, auf dessen Betreiben hin sein Amt als Staatspräsident Serbiens abgeben. Hiermit besaß Slobodan Milošević die völlige Kontrolle über den Parteiapparat im engeren Serbien.16 Der konservative Flügel innerhalb des SKS, durch Slobodan Milošević personalisiert, siegte in der Schlacht um die Zukunft des Kommunismus in Jugoslawien.17 In schnellen Schritten und unter Ausnutzung der populistischen Welle, die von 1988 bis 1989 in ganz Serbien zu beobachten war (das sog. „Sich – Ereignen – des – Volkes“), brach Milošević schließlich den übrigen Widerstand in den Provinzen Vojvodina und Kosovo sowie in der SR Montenegro.18 So musste die Regierung der Provinz Vojvodina im Zuge der sog. Joghurt – Revolution (benannt nach dem wütenden Mob, der das Parlamentsgebäude in Novi Sad mit Joghurt beschmiss) am 5. Oktober 1988 zurücktreten, die montenegrinische Regierung wurde unter dem Druck des öffentlichen Protestes am 7. Oktober des gleichen Jahre gestürzt. Beide Male waren die Demonstrationen, die zum Sturz der Regierung führten, von Slobodan Milošević und seinen Gefolgsleuten initiiert worden.19
Etwas schwieriger gestaltete sich die Brechung des aktiven Widerstandes im Kosovo, doch auch hier gelang es Milošević schließlich, die Oberhand zu gewinnen: bereits am 28.3.1989 hatte sich das Parlament der Provinz nach massiver, gewalttätiger Bedrohung — von Panzern umstellt — aufgelöst.20 Nun konnte Milošević den Autonomiestatus der Provinzen problemlos aufheben (wenn auch verfassungswidrig) und am 28.9.1990 die entsprechende Verfassungsänderung durch das serbische Parlament ratifizieren lassen. 21 Nach Einverleibung und Unterordnung der beiden autonomen Provinzen Kosovo und Vojvodina und dem erzwungenen Machtwechsel in Montenegro kontrollierte Milošević in den nach Republik- und Provinzproporz zusammengesetzten Bundesorganen der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien (SFRJ) jetzt ebenso viele Stimmen wie die vier restlichen jugoslawischen Republiken (Slowenien, Kroatien, Bosnien – Herzegowina und Makedonien) zusammen – ein Ungleichgewicht der Macht, das für die übrigen Republiken nicht mehr hinnehmbar war. 22
Diesen gesamten, „Antibürokratische Revolution“ genannten Prozess bezeichnet Vesna Pešić als „epochalen Widerstand gegen Veränderung“ 23 – nicht Ablehnung des Systems an sich, sondern der bürokratischen Deformierung, die nach Auffassung der Leugner des historischen Scheiterns des real existierenden Sozialismus der eigentliche Grund für das Nicht-Funktionieren gewesen sei. 24 Widerstand gegen Veränderungen jeglicher Art und insbesondere solche, die auf eine demokratische Modifizierung Jugoslawiens bzw. das Auseinanderdriften der einzelnen Republiken abzielten, leistete nicht nur ein großer Teil der Bevölkerung und der herrschenden Schicht der zentralen und lokalen Parteifunktionäre, sondern auch der aus Armee (JNA) und Polizei bestehende Machtapparat. 25 Beispielhaft ist der versteinert wirkende Widerstand der Armeespitze gegen die Bildung eines Bundes der Reformkräfte Jugoslawiens (SRSJ) der Bundesregierung Ante Markovics, die sich um Veränderung im Rahmen Jugoslawiens bemühte. 26
Die staatlich kontrollierten Medien in Serbien spielten bei der Machtergreifung Miloševićs und seiner Anhänger eine äußerst gewichtige Rolle in der öffentlichen Meinungsbildung. Sie waren in erheblichem Maße beteiligt an der nationalistischen Mobilisierung, und da die Massenmedien Serbiens keine garantierten Autonomierechte besaßen, war es für die Regierung ein leichtes, die Kontrolle über sie zu gewinnen und sie in „einen Produktionsbetrieb der herrschenden Ideologie“ zu verwandeln. 27 Angewandte Praktiken, die mit der zunehmenden Selbstsicherheit des Regimes in eine unmittelbare Kontrolle über alle einflussreichen Medien mündeten, waren die Ablösung ganzer Redaktionen oder eines Teils mit anschließender Ernennung oder Aufzwingung neuer Chefredakteure; andere Methoden waren Zuteilung von Sendefrequenzen und –Lizenzen, die Belegung oder Befreiung von Steuerquoten, Subventionen, Hilfe in Form von Ausrüstung oder Produktionsmaterial. 28
1. Uwe Lehnert: Christlicher Antisemitismus, in: Humanistischer Pressedienst vom 13.6.2012, URL: https://hpd.de/node/13538 (zuletzt abgerufen am 14.12.2018).
↩
2 Vgl. Lippmann, Walter (2009). Public Opinion. New Brunswick/London: Transaction Publishers.
↩
3. Thomas, Robert: Srbija Pod Miloševićem. Politika Devedesetih, a.a.O., S.63-69.
↩
4. Milošević, Milan, a.a.O., S. 16.
↩
5. Übersetzt aus: Knez Lazar nije bio glavna ličnost u programu obeležavanja šeststotog Vidovdana na Kosovu. Ljudi koji su se 28. juna 1989. godine sjatili na Gazimestanu – prema agenciji Rojters, njih šest stotina hiljada, prema srpskim medijima, čak dva miliona – nisu došli zbog njega, nego da vide i čuju novog srpskog vođu Slobodana Miloševića, koji je tog dana doputovao helikopterom na mesto Kosovske bitke da tu održi kasnije često citiran govor. Lazareva uloga bila je u tome da uveliča Miločevićevu promociju, jer je vrh SPC, koji mu je tu ulogu dodelio, i sam u tom trenutku bio više zagrejan za novog srpskog vođu nego za starog Lazara. In: Ivan Čolović (2017): Smrt na Kosovu polju. Istorija kosovskog mita. Beograd: Biblioteka XX vek, S. 385
↩
6. Übersetzt aus: Ipak, kako će se uskoro pokazati, Crkva nije mogla da oprosti Miloševiću što u svom govoru kneza svaca nije ni pomenuo, niti se potrudio da svrati u crkvu svetog Nikole u Prištini i pokloni se njegovim moštima, koje su tog dana tu počivale. To će biti jedan od razloga što će sledećih godina odnosi između SPC i vrha srpske države zahladneti. Kad su oružane bitke iz Miloševićevog govora preselile na teren, u Sloveniju, Hrvatsku i Bosnu, episkopi SPC su razvrgli savez sa Miloševićem i okrenuli se prema Radovanu Karadžiću i njegovoj tvorevini pod imenom Republika Srpska, gde su dobili mnogo važniju ulogu u kreiranju tamošnjeg političkog i društvenog života. In: Ivan Čolović (2017): Smrt na Kosovu polju. Istorija kosovskog mita. Beograd: Biblioteka XX vek, S. 385-386.
↩
7. Osnove Programa Socijalisticke Partije Srbije, Belgrad 1993, S. 81-82, zitiert nach Obradović, Marija: Der Krieg als Quelle politischer Legitimation, a.a.O., S 371.
↩
8. Obradović, Marija: Der Krieg als Quelle politischer Legitimation. Ideologie und Strategie der herrschenden Partei, in: Thomas Bremer u.a. (Hrsg.): Serbiens Weg in den Krieg. Kollektive Erinnerung, nationale Formierung und ideologische Aufrüstung, Berlin 1998, S. 366.
↩
9. Milošević, Milan: Die Parteienlandschaft Serbiens, Berlin 2000, S. 17-18.
↩
10. Milošević, Milan: Die Parteienlandschaft Serbiens, Berlin 2000, S..18.
↩
11. Milošević, Milan: Die Parteienlandschaft Serbiens, a.a.O., S.14. ↩
12. Obradović, Marija: Der Krieg als Quelle politischer Legitimation, a.a.O., S. 373-374; ausfuhrlicher Biro, Mikloš. 1994. Psihologija postkomunizma. Belgrade: Beogradski krug
↩
13. Sundhaussen, Holm: Kosovo – Eine Konfliktgeschichte, in: Konrad Clewing, Jens Reuter (Koordination): Der Kosovo – Konflikt. Ursachen – Akteure – Verlauf [=Schriftenreihe der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit], München 2000, S. 80-81.
↩
14. Calic, Marie-Janine: Krieg und Frieden in Bosnien-Hercegovina, Erweiterte Neuausgabe, Frankfurt a.M., 1996, S. 56-57
↩
15. Pesic, Vesna: Krieg um Nationalstaaten, in: Thomas Bremer u.a. (Hrsg.): Serbiens Weg in den Krieg. Kollektive Erinnerung, nationale Formierung und ideologische Aufrüstung, Berlin 1998, S. 27-35.
↩
16. Milošević, Milan: Die Parteienlandschaft Serbiens, Berlin 2000, S. 12.
↩
17. Pesic, Vesna: Krieg um Nationalstaaten, a.a.O., S.27.
↩
18. Milošević, Milan, a.a.O., S. 12.
↩
19. Thomas, Robert: Srbija Pod Miloševićem. Politika Devedesetih (Originaltitel: “Serbia under Milošević. Politics in the 1990s”), Beograd 2002, S. 65.
↩
20. Ebda., S. 65-66.
↩
21. Obradović, Marija: Der Krieg als Quelle politischer Legitimation, a.a.O., S. 370.
↩
22. Sundhaussen, Holm: Kosovo – Eine Konfliktgeschichte, a.a.O., S.84.
↩
23. Pesic, Vesna: Krieg um Nationalstaaten, a.a.O., S. 35.
↩
24. Obradović, Marija: Der Krieg als Quelle politischer Legitimation, a.a.O., S. 364.
↩
25. Pesic, Vesna: Krieg um Nationalstaaten, a.a.O., S. 33-35.↩
26. Obradović, Marija: Der Krieg als Quelle politischer Legitimation, a.a.O., S. 369.
↩
27. Snezana Milivojevic, „Die Nationalisierung des täglichen Lebens, in: Thomas Bremer, Nebojsa Popov, Heinz- Günther Stobbe (Hrsg.), „Serbiens Weg in den Krieg. Kollektive Erinnerung, nationale Formierung und ideologische Aufrüstung, S.339.
↩
28. Ebda., S. 339-341.
↩
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