[Öffentliche Meinungen] Antisemitismus, Sorosphobie und Neo-Re (I)

Einleitung

Dieser Tage erreichen uns aus der Türkei keine hoffnungsvollen Nachrichten: erneut ist es zu einer Repressionswelle unter Oppositionspolitiker_innen, Journalist_innen und Akademiker_innen gekommen. Diese Verfolgungen stellen nichts neues dar und gehören zum Standardrepertoire (neo-)populistischer Ein-Mann-Regime. (Neo-)populistische Regime sind dringend darauf angewiesen, dass es nur eine mögliche Sicht auf die Wirklichkeit gibt, und zweitens müssen sie dafür sorgen, ausreichend Zustimmung zu erlangen. Diese Zustimmung erreichen sie, indem sie eine Atmosphäre von Spannung und Unsicherheit herstellen, die von binären Freund-Feind-Schemata und wiederkehrenden Gewalteruptionen gezeichnet ist. Dies stellt einen insgesamt gut erforschten und oft beschriebenen Zusammenhang dar: viele populistische Regime haben in der Vergangenheit auf dieser Grundlage des divide et impera der vox populi funktioniert, und sich so bis zum Zusammenbruch ihrer Herrschaft über fortschreitende Polarisierung ein mehr oder weniger langes Leben beschert. Ich erinnere in diesem Zusammenhang noch einmal an eine Veranstaltung am 1. November in Berlin, als Dubravka Stojanović und Ivan Čolović über Populismus in Serbien referiert haben. Stojanović’s Beitrag bezog sich auf ihre englische Veröffentlichung, die als vollständiges PDF über die Seite von Peščanik zugänglich ist.1

Wie ich in anderen Beiträgen bereits skizzenhaft formuliert habe, liegt in den neuen Formen von Populismus, zu denen ich auch und insbesondere das AKP-Regime zähle, jedoch sowohl etwas Altes, als auch etwas Neues. Das Alte, ohne es an dieser Stelle thematisch enger zu fassen, besteht in der genannten Freund-Feind-Binarität und im Wahrheitsmonopol der einen Partei oder des einen Mannes. Das Neue („neo“) dieser Neo-Re-Bewegungen ist ursächlich den Effekten der Zweiten Moderne und der für sie kennzeichnenden Digitalen Revolution geschuldet.2 Ab den frühen Nullerjahren haben sich die Neuen Medien, die im Gefolge der Digitalen Revolution entstanden sind, zuerst allmählich, ab Ende der Nullerjahre schließlich rasant, auf die Bildung öffentlicher Meinungen (public opinions) und Öffentlichkeit insgesamt ausgewirkt. Andernorts habe ich diese Bewegungen deshalb als Neo-Re-Bewegungen bezeichnet und argumentiert, dass diese Regime ohne die Erfassung beider (alter wie neuer) Strukturelemente nicht zu verstehen wären.

Ohne ihr Verständnis jedoch kann ihnen auch nicht beigekommen oder etwas wirksam entgegengesetzt werden. Das mag sich zunächst banal und wenig kompliziert anhören. Leider handelt es sich aber um einen alles andere als einfach verständlichen oder lösbaren Zusammenhang. Davon zeugen mehrere Entwicklungen, die ich im folgenden skizzieren und im zweiten (nächsten) Beitrag durch einige aktuelle Beispiele illustrieren will. In diesem ersten Teil des Beitrags will ich mich auf die einführende Darstellung der Erfolge von Neo-Re-Bewegungen, auf Probleme der durch sie erzeugten Polarisierung, sowie auf das liberale Dilemma im Umgang mit Neo-Re-Bewegungen beschränken.

Die Erfolge der Neo-Re-Bewegungen

Erstens schreiten die Neo-Re-Bewegungen mit Erfolg voran und schaffen es ganz offensichtlich, auch dann Massen zu mobilisieren und sich deren Zustimmung zu sichern, wenn sie sich nachweislich nicht für die Rechte und die Sicherheit derjenigen einsetzen, für die sie sich einzusetzen vorgeben. Auch dies ist an und für sich nichts neues: es gibt zum Beispiel Studien zur österreichischen FPÖ, die bereits vor dem Einsetzen der Wirkmächtigkeit Neuer Medien Erfolge feierte, die zeigen, dass sich die FPÖ tatsächlich immer, wenn sie die Wahl hatte, für die nicht-sozialen politischen Optionen entschieden hat, obwohl sie sich ihrer Wählerschaft gegenüber als Verteidigerin des „kleinen Mannes“ gerierte. Neu ist jedoch an den Neo-Re-Bewegungen, und insbesondere bei der AKP, dass sich die angesprochene und mit politischer Zustimmung antwortende vox populi auf eine entgrenzte Öffentlichkeit erstreckt. Die Macht des AKP-Regimes basiert zum Beispiel durch die ursprünglich demokratische udn nationalstaatliche Institution der allgemeinen freien Wahl nach wie vor auf dem Prinzip der (begrenzten) Wahlberechtigung der Inhaber_innen der türkischen Staatsangehörigkeit. Allerdings befindet sich dieses Prinzip in einem mehrdimensionalen Auflösungs- und Transformationsprozess, dessen Ausgang nicht vorhersehbar ist — und mehr noch: es mangelt an alternativen Konzepten, politischen Visionen und Begriffen, die der Kosmopolitisierung Rechnung trügen und die nicht illiberalen Charakters wären. Es geht dabei um weitaus mehr als die oft emotional ausgetragene Debatte, ob sich Einwanderer_innen für oder gegen Mehrfachstaatsbürgerschaften entscheiden wollten oder sollten.

Um beim Fall des AKP-Regimes zu bleiben, ist festzustellen, dass der Wahlkampf keineswegs mehr innerhalb der Grenzen des Nationalstaates (in diesem Fall: der Türkei) verläuft. Das AKP-Regime hat 2010 ein eigenes „Präsidium für Auslandstürken und verwandte Gemeinschaften“ gegründet, mit dem es auf ganz unterschiedlichen Ebenen (Bildung und Hochschulmobilität, Kulturarbeit, Propaganda) versucht, sich politische Zustimmung durch öffentliche Meinungen zu verschaffen. Dazu gehören große Wahlkampfveranstaltungen in Ländern wie Deutschland und den Niederlanden, an symbolträchtigen Orten wie Bosnien-Herzegowina und natürlich über die entgrenzten Neuen Medien. Zwar ist es richtig, dass letzten Endes nur diejenigen Wähler_innen an die Urnen gehen, die Inhaber_innen der türkischen Staatsbürgerschaft sind. Es ist dabei aber nicht unerheblich, dass Themen, öffentliche Meinungen und Bilder eine Rolle im Verlauf dieser Wahlen spielen, die eine weitere Öffentlichkeit miteinbeziehen.

Ein eindrucksvolles Beispiel bietet etwa die AKP-Organisation Union Internationaler Demokraten (UID), die bis zu ihrer Umbenennung unter dem Namen Union Europäisch-Türkischer Demokraten (UETD) agierte. Um den Einmarsch der türkischen Armee in Afrîn (Februar 2018) unter der Bezeichnung „Operation Olivenzweig“ (Zeytin Dalı) veranstaltete sie eine konzertierte europaweite Aktion, in deren Rahmen willfährige Bosniak_innen in einem über die Online Social Networks kursierenden Video auf türkisch erklärten, wie sehr sie diese „Friedensinitiative“ unterstützten. Das von rührseligen Klängen der Saz unterlegte Video unter dem Titel Es gibt eine Botschaft aus Bosnien (Bosna’dan mesaj var) kam freilich nicht ohne symbolträchtige Anspielungen auf das erlittene Unrecht der Bosnier_innen während des Bosnienkriegs der 1990er aus. Dieses Thema schlachtet das AKP-Regime seit Jahren exzessiv für sich aus und geriert sich, unter tatkräftiger Unterstützung der bosnischen Partei SDA, als Beschützerin der bosnischen Muslim_innen. Es ist daher nicht überraschend, dass die AK-Pöbeleien gegen die Niederlande ein Jahr zuvor mit dem Hinweis auf den „niederländischen Mord“ an 8000 bosniakischen Männern in Srebrenica (1995) eingeleitet wurden. An dieser Stelle wäre erst einmal festzustellen, dass das Neo-Re-Regime der AKP die Vorteile der Entgrenzung, Kosmopolitisierung und Neuen Medien vorteilhaft für sich zu nutzen weiß. Hierfür werde ich im zweiten Teil der Betrachtung weitere Beispiele anführen.

Ein weiteres und damit zusammenhängendes Erfolgsrezept des AKP-Regimes liegt darin begründet, dass es sich völlig enthemmt alter Themen bedienen kann, die aus grenzüberschreitenden Kollektivformeln bestehen, die durch die Effekte der Kosmopolitisierung eine neue Aktualität erfahren. Damit ist das Regime in der Lage, nicht nur die Instrumente der Kosmopolitisierung zu nutzen — wie Neue Medien, Mehrfachstaatsbürgerschaften oder verkürzte und beschleunigte Mobilitäten: durch neu vertextete Themen alter Pan-Bewegungen, die in den früheren Nationalismusbewegungen das Nachsehen hatten, ist das Regime in der Lage, den Pool der Kommunikationsmittel und -Kanäle auch mit Inhalten und Themen zu füllen und diese durch Zensur und Kontrolle der Kommunikationmittel zu lenken. Solche Themen sind zum Beispiel Pan-Islamismus, Antisemitismus und die Ost-West-Binarität, was ebenso weiter unten im Beitrag noch genauer darzustellen sein wird.

Die Polarisierung des Widerstands: das erwünschte Echo

Zweitens lässt sich beobachten, dass es zwar große Widerstandsbewegungen und Missmut angesichts der Erfolge der Botschaften der Neo-Re-Bewegungen gibt. Dieser Missmut und Widerstand ist jedoch auf eine fatale Weise zweigeteilt, was den Neo-Re-Bewegungen wiederum zugute kommt: auf der einen Seite sind es illiberale, neo-rechte Fraktionen sowie Menschen, die nicht über ausreichend Informationen über die Hintergründe und Funktionsweise von Neo-Re-Regimen verfügen, um sich ein qualifiziertes Urteil bilden zu können. Auf der anderen Seite gibt es ein liberales Milieu, das gegenüber den Neo-Re-Bewegungen an Attraktivität zu verlieren scheint.

Diese uneinheitliche Gruppe springt aus unterschiedlichen Gründen auf die binär gefurchten Freund-Feind-Botschaften an. In diesem Abschnitt soll es zunächst um die gemischte Gruppe der Neorechten und Indifferenten gehen. Diese antworten ganz im Sinne der Akteur_innen des Neo-Re-Regimes. Im Fall des AKP-Regimes wäre das Beispiel der antiholländischen und antideutschen Pöbeleien zu nennen, mit denen es das Regime geschafft hat, Gesellschaften weiter zu polarisieren und bestehende Konflikt- und Ressentimentlinien zu vertiefen, die weit außerhalb des souveränen Staatsgebiets liegen, für welches die Institution der Staatsbürgerschaft jedoch ursprünglich zugeschnitten war. So konnte sich das Regime gleichwohl Ablehnung und Zustimmung sichern, was einem insgesamt auf Polarisierung angewiesenen Regime zugute kommt. Weit über die Hälfte der abgegebenen Stimmen wahlberechtigter Passtürk_innen in Deutschland hat beim Plebiszit über die Einführung des Präsidialsystems in der Türkei mit „Evet“ (ja) gestimmt. Auch wenn im Nachgang der Wahlergebnisse ausführlich diskutiert worden ist, dass diese Zahlen mit Vorsicht zu genießen sind, ändert das jedoch nichts daran, dass ein erheblicher Teil der in Deutschland lebenden Türk_innen für das AKP-Regime gestimmt hat.

Dies hat bei vielen, nicht nur rechts eingestellten Menschen unterschiedlicher Herkunft, darunter oppositionell eingestellte und kritische Deutsche türkischer Abstammung, Ressentiment gegenüber den „illoyalen“ Türk_innen geschürt, die mit ihrem Votum doch den deutschlandfeindlichen Pöbeleien der AKP-Vertreter_innen Recht gegeben haben. Das heißt natürlich nicht, dass es erst des AKP-Regimes bedurft hätte, um gesellschaftliche Gegensätze zu erzeugen. Rassismus und Klassenunterschiede gab und gibt es auch ohne das AKP-Regime, und ihr Bestehen war sogar die bedingende Grundlage für das Wirksamwerden der Hetze des AKP-Regimes. Das Problem wird dadurch jedoch nicht geringer, sondern größer: auch vorher indifferent eingestellte Menschen waren nun Teil des polarisierenden Geschäftes geworden und fanden sich oft im gleichen gesellschaftlichen Meinungsspektrum wie Rechte oder Rechtsradikale. In anderen Zusammenhängen wird dieser Umstand auch „Volksverhetzung“ genannt — in diesem Fall war auch von der Störung der öffentlichen Ordnung zu lesen. Einen besonders lauten Nachhall fand dieses Echo auf die polarisierenden Parolen des AKP-Regimes in der sogenannten Özil-Erdogan-Affäre, die ich hier nicht im Detail aufrollen werde.3

Das liberale Dilemma

Natürlich hat sich Widerspruch und Kritik nicht auf die oben genannte, heterogene Gruppe beschränkt. Eine zweite Gruppe von Akteur_innen will ich hier unter dem Sammelbegriff des liberalen Milieus benennen, womit aber nicht neoliberal gemeint ist. Zu diesem liberalen Spektrum gehören unterschiedliche Fraktionen, darunter diejenigen Akteur_innen, die in der verbreiteten, irreführenden und aufzugebenden Links-Rechts-Binarität als Linke zu bezeichnen wären. Linke, also Anhänger_innen linker politischer Parteien, Bewegungen und Ideen, gehören zu den ausgesprochenen Feinden innerhalb des Freund-Feind-Schemas der Neo-Re-Bewegungen, und sie werden besonders häufig vom Regime verunglimpft und verfolgt. Insofern sind kritische Reaktionen aus dem liberalen Milieu nicht überraschend. Zu den Linken gehören Antifaschist_innen ebenso wie die linken Flügel der früheren Sozialdemokratie. Außerdem gehören in der deutschen Gesellschaft Angehörige des grünen Spektrums und weite Teile der akademisch Gebildeten zum liberalen Milieu. In diesem Milieu ist es üblich, um es zu verallgemeinern, sensibilisiert und mit Vorsicht auf gruppenbezogene Aussagen zu reagieren.

Rassismus gilt als großes, nicht bewältigtes gesellschaftliches Problem, und je nach Auffassung und Begriffspräferenz gelten Islamfeindlichkeit, Islamophobie oder anti-muslimischer Rassismus als Varianten des Rassismus. Hinsichtlich dieser Begriffe gibt es zwar eine lebhafte Diskussion, und es besteht alles andere als Einigkeit, was ihre Verwendung betrifft. Aber es gilt in liberalen Kreisen doch mehrheitlich als problematisch und ablehnenswert, gegen „Andere“ zu mobilisieren, indem diese als Gruppe mit bestimmten Eigenschaften in einem negativen Licht zum Problem erklärt werden. Völlig zu Recht wird von Vertreter_innen des liberalen Spektrums mit Geschichte und geschichtlichen Argumenten argumentiert, da insbesondere die Nazi-Vergangenheit Deutschlands und das Verbrechen des Holocausts lehrreich sind. Im Gegensatz zur euphorischen Verwendung alter Themen des Neo-Re, die auf ihre Weise „geschichtlich“ sind, wird hier ein reflektiertes Verhältnis zu Geschichte gepflegt. Nun stellt sich die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass das liberale Milieu so schwach und erfolglos erscheint. Dies will ich im nächsten Beitrag erörtern.


1. Vgl. Dubravka Stojanović (2017): Populism the Serbian way. Beograd: Peščanik und Ivan Čolović (2017): Smrt na Kosovu polju. Istorija kosovskog mita. Beograd: Biblioteka XX Vek

2. Der Begriff der Zweiten Moderne geht auf Ulrich Beck zurück, vgl. Ulrich Beck and Edgar Grande: Jenseits des methodologischen Nationalismus: Außereuropäische und europäische Variationen der Zweiten Moderne, in: Soziale Welt , 61. Jahrg., H. 3/4, Variationen der Zweiten Moderne (2010), pp. 187- 216.

2. Vom Foto bis zum Rücktritt: Chronologie der Özil-Erdogan-Affäre, in SPON vom 23.7.2018, URL: http://www.spiegel.de/sport/fussball/mesut-oezil-vom-foto-mit-recep-tayyip-erdogan-zum-ruecktritt-die-chronologie-a-1219642.html (zuletzt abgerufen am 7.12.2018).

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