Der folgende Beitrag ist ein Essay über den schwierigen, weder randscharfen noch kernprägnanten Begriff der/des Intellektuellen. Grund: Ich fühle mich oft unwohl mit diesem Begriff, da ich immer wieder mit der Gewohnheit konfrontiert werde, dass Menschen als Intellektuelle bezeichnet werden, mit deren Denken und Schriften ich mich zwar relativ ausführlich beschäftigt habe, die ich selbst aber nur äußerst ungern als Intellektuelle bezeichnen würde. Dennoch erscheint es konventionell, jene affirmativen Intellektuellen, wie ich sie später benennen und wodurch ich sie von den kritischen Intellektuellen (auch einfach: Intellektuellen) unterscheiden will – als Intellektuelle zu bezeichnen.
Es ist mir zwar kein Rätsel mehr, warum anachronistisch werdende Patriarchatsverfechter wie der stets etwas falsch lächelnde Ahmet Davutoğlu oder der großväterlich kolportierte pater familias Alija Izetbegović zu den „Intellektuellen“ gerechnet werden. Auch der amerikanische Kulturalist Samuel P. Huntington wird schließlich als Intellektueller bezeichnet, obwohl er eine feste kulturalistische Ordnung der Dinge ebenso vehement behauptet wie seine oben genannten Kollegen aus Bosnien bzw. der Türkei. Um als „intellektuell“ zu gelten, ist freischwebende Intelligenz – ein von Alfred Weber und Karl Mannheim geprägter Begriff – offenbar kein Muss.
Sehr oft lese ich, Sozial- und GeisteswissenschaftlerInnen befassten sich mit intellectual history, mit Intellektuellen, mit Ideengeschichte. Was dabei oft aus den Archiven und Schriften ausgegraben wird, sind grobe Apologetik, sind längst schon dagewesene Ideen, ist Nationalismus in diesem oder jenem Gewand: ist druchwirkt von der alten, raumstrukturierenden Ost-West-Binarität. Radikales Infragestellen — was heute als kreative, der Zukunft zugewandte und aus der Erfahrung der Vergangenheit schöpfende Denkarbeit nötiger denn je wäre — bleibt mir dabei zu oft auf der Strecke. Besonders schwierig wird die kritische Auseinandersetzung und Würdigung sowohl der Verarbeitung dieser intellectual history, als auch mit den Primärtexten und deren ProduzentInnen — den affirmativen Intellektuellen — wenn es dabei um Menschen geht, deren mit Binaritäten und mythischen Tropen verteidigte Weltsicht mit Kategorien religiöser Glaubenssysteme verwoben ist. Bei den affirmativen Intellektuellen, um die es hier unter anderem gehen wird, handelt es sich zum Beispiel um explizit religiöse Menschen. Ihre Schriften mit Titeln wie Islam between East and West sind auf sehr direkte Art und Weise von den Gewissheiten des zugrundeliegenden religiösen Glaubenssystems durchzogen.
Religion und Spiritualität
In vielerlei Hinsicht bestehen Analogien zwischen der Unterscheidung in affirmative oder kritische Intellektuelle, und Religiosität und Spiritualität, was hier kurz skizziert werden muss. Es wäre anmaßend und falsch, davon auszugehen, dass sich Spiritualität mit der Sprache der Kritik nicht vertrüge. Ganz im Gegenteil ist das anhaltende, unbewältigte Kontingenzproblem, nämlich nicht mit Sicherheit wissen zu können, ob es Gott gibt oder nicht, und auch die Möglichkeit, dass sich das Geglaubte ebenso gut als falsch herausstellen könnte, der Sprache der Kritik eng verwandt. Auch heute noch wissen wir, zumindest auf der Ebene von Logos und Ratio, nicht das allergeringste über das Jenseitige; wir wissen noch nicht einmal, ob es ein Jenseitiges überhaupt gibt, und es bleibt uns festzustellen, dass es der Mehrheit der Menschheit ein Bedürfnis ist, daran zu glauben und Kontingenz bewältigende Antworten zu finden. Glaube als spirituelle Suche ist mit „Gläubigsein“ nicht gleichzusetzen, wie die Philosophin und Mystikerin Simone Weil schrieb:
Der Zweifel ist für den Verstand eine Tugend, und deshalb gibt es einen Zweifel, der nicht unvereinbar ist mit dem Glauben; und der Glaube ist nicht das Gläubigsein.
(Quelle: Cahiers 1-4. Aufzeichnungen. 4 Bde. Herausgegeben und aus dem Französischen von Elisabeth Edl und Wolfgang Matz. München, Wien 1991 ff. (c) 1991, 1993, 1996, 1998 Carl Hanser Verlag, München, Wien. Bd. 4, S. 56)
Es gibt drei Möglichkeiten, einschließlich ihrer Übergangsformen, diesem Bedürfnis nachzugehen: erstens kann man entscheiden, zu glauben, dass es ein Jenseitiges nicht gibt, und die Kontingenzfrage für sich selbst als erledigt zu erklären. Zweitens kann man sich einer der religiösen Glaubenssysteme anschließen, sofern man überhaupt eine Wahl hat und nicht in sie hineingeboren und über Zwang dem Glauben verpflichtet wurde. Drittens schließlich kann man sich dazu entscheiden, die Kontingenzfrage ergründen zu wollen, darüber aber die Offenheit des Prozesses in Kauf zu nehmen und anzuerkennen, dass es keine festen Regeln und keine endgültigen, sicher gewussten oder geglaubten Antworten gibt. Diese drei Möglichkeiten sind natürlich nur grobe Kategorisierungen, und es bestehen selbstverständlich Übergangsformen. Es gibt Atheistinnen, die sich über die Agnostik den Weg in die Spiritualität offenhalten, und es gibt nicht-theistische Wege wie den Buddhismus, in denen es zwar „Gott“ nicht gibt, die aber trotzdem nichts anderes als spirituelle Suche sind. Es gibt Angehörige religiöser Glaubenssysteme, die sich zwar an die Regeln des Systems halten, darüber hinaus aber auf der spirituellen Suche bleiben und Zweifel an den Gewissheiten des Glaubenssystems einräumen. Im Sinne dieser Kategorisierung besteht eine deutliche Analogie zwischen affirmativen Intellektuellen und Anhängern eines religiösen Glaubenssystems, die an dessen Orthodoxie – „Rechtsgläubigkeit“ – glauben: beide streben nach Institutionalisierung, da das Geglaubte ja verbindlich als wahr zu betrachten und vor Angriffen zu schützen ist, und beide nehmen in Kauf, dass die Sphäre des Denkbaren durch Regeln begrenzt ist.
Ich hänge der Vorstellung an, dass „intellektuell“ heute eine normative Kategorie sein sollte, die insofern normativ ist, als sie nach Ergründung sinnvoller Fragen der Habitabilität unseres Planeten strebt, dabei aber keine festen Regeln kennt, außer der, dass es nach Möglichkeit keine Begrenzung des Denkens und des Denkbaren gibt, und dass so zwangsläufig mehr Fragezeichen als sicheres Wissen produziert wird. Nicht eine jede und ein jeder, die oder der Ideen zusammenstellt, ist zwangsläufig auch intellektuell. Und sei es, dass der vermeintlich Intellektuelle (und ich setze ihn hier aus gegebenem Anlass männlich) die vertretene Ideenkomposition für sich selbst erst entdeckt hat, und durch das Vertexten mit anderen Ideen davon ausgeht, etwas Neues in die Welt gesetzt zu haben. Etwas Neues in die Welt zu setzen: Dinge denkbar zu machen, die es vorher so nicht gab, oder bisher gedachtes und vorgestelltes anders denkbar zu machen, ist jedoch die Aufgabe und Eigenschaft der Intellektuellen. Wenn nun aber die einen eine hermetische, feste Sicht auf die Welt ideenmäßig konstruieren und vertreten, die auf den nicht hinterfragten Vor-Annahmen mythischer Tropen fußt, und sich die anderen im Gegensatz dazu dem Kontingenzproblem hingeben und, zumindest nach ihren Möglichkeiten, alles für denkbar und alles auch für anders denkbar halten, ist es einigermaßen absurd, beide Vertreter von „Intellektuellen“ mit derselben Kategorie beschreiben zu wollen.
Will man den dergestalt verwässserten Begriff des Intellektuellen trotzdem verwenden, so würde ich vorschlagen, besser zwischen affirmativen Intellektuellen und Intellektuellen unterscheiden.
Die Auswahl affirmativer und kritischer Intellektueller
Ich will hinzufügen, dass ich für diese Auseinandersetzung ebenso gut auf andere Beispiele affirmativer Intellektueller hätte zurückgreifen können, deren Schriften in großer Zahl in unterschiedlichen Zungen zugänglich sind, und die auf ähnliche und vergleichbare Weise intellektuell daher kommen, ohne meinem hier noch auszuformulierenden Verständnis von „intellektuell“ zu entsprechen. Ich wurde allerdings durch die Beschäftigung mit der bosniakisch-türkischen Kulturdiplomatie und durch die Tropenanalyse der Schriften Ahmet Davutoğlus, Alija Izetbegović’s und İbrahim Kalın’s im Rahmen meiner Dissertation zu diesem Essay angeregt. So erklärt sich zunächst die Auswahl der affirmativ-intellektuellen Textbeispiele. Diesen will ich drei weitere Namen gegenüberstellen: Hannah Arendt, Norbert Elias und Ulrich Beck. Letztere habe ich ausgewählt, weil mich ihre Schriften, noch vor anderen Denkerinnen und Denkern wie Pierre Bourdieu, in den letzten Jahren am stärksten beschäftigen. Sie geben mir gewissermaßen das, was mir die zuvor genannten Herren nicht geben: Inspiration und Kopfzerbrechen. Fast könnte man sagen, sie ergänzen sich.
Weil die ständige Rede von „Selbstwahrnehmung“ zwischen Ost und West so zentral in der Diskursanalyse der bosniakisch-türkischen Kulturdiplomatie ist, und weil die Ost-West-Binarität in allen möglichen Spielarten den Rahmen und die Grenze des Denkbaren im Hin- und Herrennen des Diskurses der Kulturdiplomaten bildet, habe ich die Schriften dieser Männer zu lesen und ernst zu nehmen. Auch wenn ich auf der propositionalen Ebene — also hinsichtlich dessen, was sie inhaltlich „vorschlagen“ — für mich keinen Nutzen ziehen kann, wäre es falsch, ihre Wirkmächtigkeit geringzuschätzen. Zum anderen eignen sich diese Personen und ihre Schriften für eine solche Auseinandersetzung, weil sie im wissenschaftlichen Feld – dem sie selbst angehören (oder angehörten) – aber auch darüber hinaus in einer weiteren Öffentlichkeit ständig als Intellektuelle, gar als „König des Wissens“ (so Alija Izetbegović in der Türkei) bezeichnet werden. Und das, obwohl sie keine neue Sicht auf die Welt, sondern allenfalls einen Richtungswechsel des tropischen Hin- und Herrennens zwischen Ost und West vorschlagen.
Der scheitern müssende Versuch einer Selbstverortung
[Dieser Abschnitt wird gerade überarbeitet. Note to myself: Hier geht es darum zu ergründen, was mich dazu bringt, mich auf das „Dazwischen“ bzw. eine wie auch immer verstandene „Drittheit“ zu fokussieren, und allen rechts/links, schwarz/weiß, Ost/West-Pfärchungen seit jeher kritisch gegenüberstehen, oder gegenüberstehen zu müssen – worauf im „queeren Abschnitt“ noch einmal zurückzukommen ist]
Die kritischen Intellektuellen
Ich selbst vertrete also einen verengten, normativen Begriff der/des Intellektuellen, ohne dadurch automatisch die schiere Relevanz und Wirkmächtigkeit der oben genannten affirmativen Intellektuellen abzustreiten. Das Hauptmerkmal einer Intellektuellen besteht meiner Ansicht nach jedoch in ihrer Kreativität und Nativität auf der Ebene des Denkens und denkerischen Handelns. Als Nativität hat Hannah Arendt, wie auch andere vor und nach ihr, eines der Grundmerkmale der conditio humana benannt: nämlich die Möglichkeit, etwas neues in die Welt zu setzen, oder sogar, wie im Fall der großen Denkerinnen, die Sicht auf die Welt zu verändern. Außerdem ist es kennzeichnend, dass durch die Schriften einer Intellektuellen die Intellektuelle als Person zu uns spricht, sich selbst mitteilt und als solche erkennbar wird. Erst dadurch – und nicht durch die von ihrer Person entkoppelte Logik der Worte, durch wiederkehrende matter tropes, durch den Objektivität suggerierenden, mit allerlei Fußnotenwissen versehenen Text eines enzyklopädischen Eintrages oder wissenschaftlichen Artikels, durch die beabsichtigte Kälte einer Gebrauchsanweisung – sind wir in der Lage zu sagen: „Hannah Arendt hat mich inspiriert“. Inspiriert worden zu sein bedeutet in diesem Fall, die Einladung zum Mitdenken anzunehmen, eine Möglichkeit des Denkens fortzuführen und eine Beziehung zwischen dem Gedanken der Intellektuellen und der sozialen Welt des Selbst herzustellen. Das Ziel dieser Inspiration, wie ich es verstehe, ist es nicht, einen Idealzustand zu erreichen oder irgendjemanden von einem solchen überzeugen zu wollen. Kritischen Intellektuellen ist am Prozess des Denkens gelegen, und damit daran, die Tore der Kreativität offen zu halten.
Hannah Arendt – das Handeln des Neuankömmlings
Wir können sagen: Hannah Arendt hat sich nicht „nur“ mit dem selbst erlebten Grauen des Nationalsozialismus beschäftigt, sondern auf der Ebene des politischen Denkens Konsequenzen gezogen, aus denen wir heute noch lernen und unser Verständnis über das Politische revolutionieren können. Wir können sie heute noch als avantgardistisch und überzeugend erleben, wenn wir etwa ihr unerschrockenes, sich selbst teilweise marginalisierendes Infragestellen gedanklicher Konventionen lesen (oder in einem Interview hören und sehen), da sie etwa das Böse als etwas Banales durchschaut und erklärt hat.
[Dieser Abschnitt wird noch erweitert]
Norbert Elias – Prozess, nicht Staat
Wir können in Hannah Arendts Verständnis und Definition von Macht, die derjenigen des von mir sehr geschätzten Soziologen Norbert Elias ziemlich genau entspricht, immer noch zu einem prozessualen Verständnis des Begriffes der Macht gelangen; Der Machtbegriff wird von beiden als Inter-Esse, als das Zwischen-den-Menschen, begriffen, was der auch heute noch andauernden Begriffsverwässerung entgegensteht, die Macht mit Herrschaft oder Gewalt verwechselt. Wir können auch heute noch Intellektuelle sagen und einschätzen hören, „die Macht“ habe „auf der Straße gelegen“, und es habe nur jemand kommen und sie „ergreifen“ müssen, as sei sie ein Gegenstand und könne in die Hand genommen und aus der Hand gegeben werden; wir kennen den Begriff der „Machtergreifung“ als etablierten und selbstverständlichen Begriff, der allerdings mit der Tücke einhergeht, uns falsch über Macht nachdenken lassen zu können. Wir können deshalb die andauernde intellektuelle Leistung von Hannah Arendt und Norbert Elias nicht hoch genug schätzen, da ihr kritisches, logisch konsistentes, originales Denken sogar heute noch in ihrer Relevanz anhält.
[Dieser Abschnitt wird noch erweitert]
Ulrich Beck – real artists deliver
Wir können ebenso – jedoch nur, wenn wir uns mehr als oberflächlich mit dem Begriff der Kosmopolitisierung beschäftigen, und ihn nicht in unvollständiger, inkonsistenter Schnelligkeit als einen idealisierenden, positiv besetzten, eurozentristischen Begriff zurückweisen, wie es manchmal geschieht – von Ulrich Beck lernen. Wir können sein intellektuelles Werk als solches würdigen: Ulrich Beck hat sich auf seiner langen intellektuellen Reise nicht damit begnügt, festzustellen, was nicht mehr ist:
„Im Übrigen ist dies Wörtchen post der Blindenstab der Intellektuellen. Sie fragen nur, was nicht der Fall ist, und sagen nicht, was der Fall ist. Wir leben im Zeitalter des Postismus, des Jenseitismus und des Nachismus. Alles ist post, ist jenseits und ist nach. Es handelt sich dabei um eine halbe Diagnose, die lediglich feststellt, dass wir die alte Begrifflichkeit nicht mehr benutzen können. Darin verbirgt sich intellektuelle Faulheit und in gewisser Weise auch intellektuelle Unredlichkeit und Unaufrichtigkeit, denn die Aufgabe des Intellektuellen ist es, Begriffe zu entwickeln, mit deren Hilfe sich Gesellschaft und Politik neu definieren und organisieren können.“1
Beck hat das längst kritisierbare und kritisierte, erkannte und immer wieder in Frage gestellte benannt: den methodologischen Nationalismus, das Prinzip der hermetischen Nationalstaatlichkeit insgesamt, die fortwährende Produktion von Risiken, den selbst induzierten Verfall der ersten Industriemoderne, die menschlich erzeugte Metamorphose unserer Welt im Klimawandel, und so fort. Er ist hier aber nicht „am Blindenstab“ stehen geblieben, sondern hat mit seinen Schriften über eine Zweite Moderne und seiner Forderung eines normativen Kosmopolitismus „geliefert“.
Sein, mir scheint es, nicht ernst genug genommener und nicht breit genug perzipierter Begriff der Zweiten Moderne unterscheidet sich übrigens in allem grundlegend von einfältigen, aber weit verbreiteten Modernitätsbegriffen, wie sie in der ermüdenden Modernität/Modernisierung/Modernismus-Debatte zermürbt werden, in der letztlich oft nichts anderes getan wird, als einer kulturalistischen Argumentation eine gegen-kulturalistische Argumentation entgegen zu stellen.
[Dieser Abschnitt wird noch erweitert]
Das Stehenbleiben am Blindenstab der Intellektuellen
Und hier will ich auf die „Intellektuellen“ zurückkommen, die genau das tun: sie produzieren kulturalistische und gegenkulturalistische Texte einer als „anders“ behaupteten Moderne, aus denen am Ende aller Tage doch kein Nutzen zu ziehen sein wird, die aber die Möglichkeit in sich bergen, zu großem Schaden instrumentalisiert und verbreitet zu werden. Sich selbst dennoch intellektuell zu wähnen, oder dies als intellektuell zu bezeichnen, hat in erster Linie damit zu tun, dass der Intellektuelle (aus gegebenem Anlass männlich gesetzt) es nicht vermag, seine Sicht auf die Welt für einen Moment (man sagt vermutlich nicht umsonst „für einen Augenblick“) zu verlassen, in Frage zu stellen, „die Welt aus den Anngeln zu heben“, zu reflektieren und abzuwägen. Ebensowenig vermögen die Rezipientinnen jener „Intellektuellen“, den Blick als etwas nicht-originelles, nicht-kreatives, sondern inhärentes und unreflektiertes zu durchschauen.
Wenn wir von der Sicht auf die Welt sprechen – wenn wir auf die Welt blicken – nehmen wir automatisch eine Perspektive ein, die uns so natürlich erscheint wie das alltägliche Aufschlagen unserer Augenlider und das darauffolgende, nahezu ununterbrochene Blicken durch ein Augenpaar, bis wir uns schlafen legen oder aus anderen Gründen die Augen schließen. Während wir den ganzen Tag über die meiste Zeit ohne ein explizites Bewusstsein über unser andauerndes Blicken auf die Welt auf die Welt blicken, verinnerlichen wir eine Orientierung in der Welt und über sie, ohne die wir scheinbar nicht sein können. Selbst in unseren Träumen werden wir uns nach rechts und links orientieren wollen, werden wir uns oder andere vielleicht von Osten und Westen sprechen hören – werden wir, obwohl wir nicht „blicken“, einen Unterschied zwischen hell und dunkel oder unterschiedliche Farben unterscheiden können. Wir sehen nicht, dass unser Blicken auf die Welt binär ist.
Die affirmativen Intellektuellen
Unter affirmativen Intellektuellen wären diejenigen TextproduzentInnen zu verstehen, die eine gesellschaftliche Ordnung präskriptiv für eine total gesetzte Öffentlichkeit verteidigen oder produzieren. Sie sind nicht an der Hinterfragung ihrer grundsätzlichen gesellschaftlichen Kosmologie interessiert, auch wenn die Festen dieser Ordnung nach teilweise schon sehr weit zurückliegenden Entdeckungen und Ideenwerken als absurd erscheinen wollen. Freilich wird jeder Mensch angesichts seines nicht genau wissen Könnens – ob nicht-wissend, ob wissend um sein nicht-genau-wissen-Können – ab einem bestimmten Punkt auf Elemente eines Glaubenssystems angewiesen sein.
Ein Historiker wird die Sozialgeschichte eines vergangenen Gemeinwesens, etwa des Osmanischen Reiches, auch über die Rolle des Geldes erklären wollen; der Geldwert, ein an und für sich aus dem Glauben geschöpfter Wert, taucht meistens als Zahlenwert auf, der als Gegeben, als Datum, als donnée verwendet wird; der Zahlenwert, da er in einem eigens für ihn geschaffenen und sich graphisch abhebenden Schriftsystem abgebildet wird, erscheint so unumstößlich die Entsprechung der Anzahl der von ihm markierten Dinge zu sein, wie es sich beim Abzählen der Finger einer vollständigen menschlichen Hand „Fünf“ sagt; auch wenn niemandem unbedingt klar ist, wie eine Million eigentlich zu verdinglichen wäre. Die Dette Publique Ottomane zum Beispiel kann affirmativ intellektuell oder intellektuell erklärt werden; typisch für den ersten Ansatz des affirmativen Intellektuellen wäre, aus der Geschichte des in den Staatsbankrott getriebenen Osmanischen Staates einen narrativen Plot zu produzieren, der, summa summarum, die Geschichte des Niedergangs des „Ostens“, des „Orients“, der „Europäischen Türkei“ und des Aufstiegs Europas und Nordamerikas erzählt. Der affirmative Intellektuelle mag sich dabei sogar über „Orientalismus“ erhaben fühlen, ohne jedoch radikal verstanden zu haben, dass die Daten, die Gegebenen und die Vor-Annahmen, die er verwendet und reproduziert, ein Glaubenssystem aufrecht erhalten, das so etwas wie den Orientalismus, nämlich die Ost- und Westsetzung der Welt, überhaupt erst möglich macht.
Oft tarnt sich das Projekt des affirmativen Intellektuellen als Bewegung des „Widerstands“, des Trotzes, der Reaktion. So verständlich die Vermengung der Betrachtung sozialer Wirklichkeit mit Kategorien der Ethik, der Gerechtigkeit und des Widerstands sein mag, sind einem nur reaktiven Widerstand, der nicht in ganzer Radikalität die Verbreitung, das „Aufblühen“ und den „Niedergang“ eines Glaubenssystems wie den Kapitalismus wahrhaben kann, keine kreativen Möglichkeiten beschieden, Neues in die Welt zu setzen und echte Alternativen zu bieten. Aus den Reihen der affirmativen Intellektuellen wird man deshalb vergeblich auf eine kopernikanische Wende oder einen Great Leap Forward auf der Ebene der Ideen warten.
Liest man ihre Werke, wird man früher oder später feststellen, dass das ganze als „intellektuell“ missverstandene, aber zu Unrecht oft dennoch als solches geadelte Gedankenwerk auf alten, längst dagewesenen, porösen und anachronistischen Ordnungen aufbaut. Dabei spielen natürlich die kosmologischen Raumordnungen eine große Rolle. Ganz prominent figuriert hier, scheint’s unvermindert, die Ost-West-Binarität. Die Metaphorik der Himmelsrichtungen erweist sich als einigermaßen stabil, weil die intellektuelle Denkarbeit, die Übersetzung der Sonnenaufgangs- und Sonnenuntergangsmetapher einmal zurückzuübersetzen, unterlassen wird. In einem angesichts der gegenwärtigen Zustände eigentlich erstaunlichen, ja, schrill wirkenden Versuch des Aufbäumens und nicht-wahrhaben-Wollens oder -Könnens, schreibt der affirmative Intellektuelle gegen die alles bedrohende Radikalität des Intellektuellen an. Wird die Radikalität des intellektuellen Denkens und in Frage stellens allzu bedrohlich, was sie zwangsläufig sein muss, haben sich die heute oft völlig zu Unrecht als Intellektuelle bezeichneten Inquisitoren – und es wird beizeiten eine passenderer Begriff zu finden sein – seit jeher mit Denk-, Rede-, Schreibverboten, mit Inhaftierungen, mit unter Folter erzwungenen Falschaussagen und der Tötung ihrer Gegner beholfen, da sie ihnen auf der Ebene der Ideen nicht Herr werden können.
Ahmet Davutoğlu – Zivilisation und Barbarei
Die einfach strukturierten Schriften der Herren Davutoğlu, Izetbegović und Kalın sind grundlegend sind für das Selbst-Verständnis der bosniakisch-türkischen Kulturdiplomatie: Davutoğlu schreibt ständig über das Ben-idraki, die Selbstperzeption, die eine bestimmte Zivilisation von sich selbst habe, oder die es, im Falle eines „geteilten Selbst“ (bölünmüş Ben), wieder erlangen müsse.
[Dieser Abschnitt wird noch erweitert]
Alija Izetbegović – von Erdoğan am Sterbebett verabschiedet
[Dieser Abschnitt wird gerade noch erstellt]
İbrahim Kalın – der theologische Präsidentenberater
Autor von (Auswahl):
Ben, Öteki ve Ötesi: İslam-Batı İlişkileri Tarihine Giriş (Das Selbst, der Andere und sein Anderes: Einführung in die Beziehungen zwischen dem Islam und dem Westen)
İslam ve Batı (Islam und der Westen)
İslamofobi: 21. Yüzyılda Çoğulculuk Sorunu (Islamophobia. The Challenge of Pluralism in the 21st Century. Oxford University Press, Oxford 2011, zusammen mit John L. Esposito)
[Dieser Abschnitt wird gerade noch erstellt]
Westliche Intellektuelle versus östliche Intellektuelle?
Man mag freilich einwänden wollen, dass eine Gegenüberstellung der genannten drei Intellektuellen und der affirmativen Intellektuellen reichlich absurd erscheint. Wie bereits eingangs festgestellt, wäre es ausgesprochen fragwürdig, sie alle gleichermaßen mit dem Attribut der Intellektuellen versehen zu wollen, und so zu tun, als handelte es sich bei der Summe ihres Handelns um etwas vergleichbares oder womöglich ebenbürtiges. Natürlich drängt sich noch einmal die Feststellung auf, dass es die kritische Betrachtung des Verhaftetseins der Ost-West-Binarität gewissermaßen parodiert, dass die kritischen Intellektuellen innerhalb dieser binären Teilung der Welt wohl zumeist als „westlich“ verortet werden würden, und dass die affirmativen Intellektuellen in noch viel stärkerem Maß als „östlich“ gelten können. Dieser Einwand zeigt noch einmal, wie verinnerlicht die Binarität ist – und gleichzeitig, von welch geringer Aussagekraft, wenn man einmal bedenkt, dass Hannah Arendt und Norbert Elias aus Deutschland kamen, dessen Westlichkeit aus heutiger Sicht kaum je hinterfragt wird, und dass beide aus Deutschland ausgeschlossen wurden, und die Verfolgung durch „den Westen“ nur durch Flucht, Staatenlosigkeit und Neuanfang – westlich von Deutschland – überleben konnten. Hannah Arendt selbst hat Deutschland übrigens nicht eindeutig „dem Westen“ zugeordnet, wobei ihre Klassifikation eher einer typologischen Zuordnung zu einem der damals bestehenden politischen Organisationsmodelle entsprach.
Vom Zwang, nicht-binär denken zu müssen (und manchmal nicht zu können)
Menschen, die selbst aufgrund ihrer gesellschaftlich auferlegten (Geschlechter-)Identität nur unter großem Befremden mit den machtvollen und zwanghaften Binaritäten der sozialen Wirklichkeit zurechtkommen – die sich vielleicht als nicht-binär oder queer bezeichnen würden – mögen meine Skepsis gegenüber der Unfähigkeit des Versuchs, Binarität „für einen Augenblick“ abzustreifen, vielleicht ein bisschen besser nachvollziehen können als Menschen, die mit großer Selbstverständlichkeit und unter Freude Mitglied in einem geschlechtersegregierten Fußballverein sind; die auf dem Spielfeld der Gesellschaft eine der vielen großen binären Einteilungen der sozialen Welt freiwillig praktizieren, reproduzieren, und die vielleicht „mögen, was sie haben, weil sie haben, was sie haben“ (letzteres ist ein Zitat von Pierre Bourdieu, wahrscheinlich aus den Feinen Unterschieden oder dem Staatsadel, was ich aber zum korrekten Zitieren erst nachschlagen muss). Wenn man in einer so großen konventionellen Frage gesellschaftlicher Organisation wie der Geschlechterordnung nicht-binär veranlagt ist, kann man aber nicht mögen, was man hat — weil man es nicht hat. Man muss, zumindest in einer Hinsicht, nicht-binär denken.
Binaritäten womöglich gar nicht wahrzunehmen, sie als Selbstverständlichkeit zu betrachten, ist schnell erklärt und begründet, etwa damit, „dass es ja wirklich einen Osten und einen Westen gibt“. Es gibt nun einmal Tag und Nacht, und so gibt es auch eine Hell- und Dunkelmetaphorik, und so fort. Die Existenz queerer Menschen lehrt uns jedoch, dass selbst so große Selbstverständlichkeiten wie die Binarität der Geschlechter dekonstruierbar und somit konstruiert ist.
What am I after?
Es geht mir nicht darum, so zu tun, als ‚gäbe‘ es die großen Raumtropen von Ost und West nicht, oder gar die leidvolle soziale Wirklichkeit, die mit der Schwarz-Weiß-Metaphorik erzeugt wurde und wird.
Was mich umtreibt, um es vorweg zu nehmen, ist der „Blick des Kosmonauten“ auf die Erde. Ich dachte an diesen Vergleich vor kurzem, als ich ein Interview mit dem Astronauten Alexander Gerst gesehen habe, der beschreibt, wie er von außen auf die Erde geblickt hat und dabei sehen konnte, wie Amazonien inzwischen aussieht – aber auch, wie Menschen Kriege führen und Raketen aufeinander schießen. Die Texte dieser Kriege sind oft, wenn nicht immer, von großen Binaritäten geprägt, ohne welche die grundlegende und für Kriegsführung unabdingbare Gegnerschaft nicht konstruierbar wäre. Der „Blick des Kosmonauten“ hat mehr als „den Westen“ oder „den Osten“ (oder beide) im Blick: er ist, in „unserer Zeit“, sogar unabdingbar, da alle auf der Erde „geschehenden“, vom Menschen praktizierten Ereignisse eng miteinander verbunden sind. Sie sind interdependent. In diesem Sinne lässt es mir keine Ruhe, dass etwas als „intellektuell“ bezeichnet wird, was aus einem engeren als dem kosmopolitischen Blickwinkel des Kosmonauten produziert wurde, und sich dabei mit allergrößter Selbstverständlichkeit – ja: Vehemenz – der Metaphorik der Himmelsrichtungen bedient. Damit soll eine eng gesteckte, aber großen Schaden bringende Wirklichkeit konstruiert werden, was Einspruch und Kritik verdient.
Ich bin mir übrigens nicht sicher darüber „what I am after“. Es ist eine aufwühlende und unbequeme Motivation, die mich antreibt. Vielleicht bin ich einer radikalen Infragestellung des Systems des „Glaubens“ auf der Spur, was jedoch nicht (nur) als ein bestimmtes oder mehrere Glaubenssysteme von Religion zu verstehen wäre. Ich vermute, und zwar je länger ich mich mit Glaubenssystemen beschäftige, dass ich eigentlich dem schwer zu beschreibenden Phänomen lange anhaltender Zusammenbrüche von Glaubenssystemen auf der Spur bin.
Die abhorrende Angst vor dem Scheitern des Glaubenssystems
Zwar erscheint mir ihr Unterfangen auf lange Sicht vergebens. Das Festhalten an den raumordnenden, oder besser: den den Raum nur scheinbar „ordnenden“ Tropen erinnert in jeder Hinsichtan die Logik des Mythos: die stabil geglaubten Raumordnungstropen werden nicht, können nicht und dürfen nicht in Frage gestellt werden, da sie letztliche, verbindliche Sicherheiten darstellen. Das ist auch der Grund, warum sich ein glaubender Mensch persönlich angegriffen fühlt, wenn die tropische Grundstruktur seines Glaubens in Frage gestellt wird. Auch dann, wenn es mehr als nur Grund zur Vermutung gibt, dass mit dem Firmament der Sicht auf die Welt etwas nicht stimmt, wurden Menschen für ihre Erkenntnis verfolgt – auch, wenn die Verfolger später anerkennen mussten, dass die Häretiker Recht hatten.
Aus der Mythosforschung ist bekannt, dass ein sich nicht aktualisierendes, nicht mit der sozialen Wirklichkeit korrespondierendes Glaubenssystem unter Umständen dazu tendiert, in einem katastrophischen Progress zu eskalieren und unwiederbringlich zu scheitern. Dieser katastrophische Progress findet besonders dann statt, wenn die Gesellschaft undynamisch und bedrängt ist. In einem weniger starren Rahmen transformiert sich ein Mythos langsam zu einem Gegenstand der Museen oder wird folklorisiert, verliert jedoch in jedem Fall seine Deutungshoheit über die soziale Wirklichkeit. Man weiß jedoch auch, dass ein Mythos, und damit jedes tropisch strukturierte Glaubenssystem, nicht einfach so aus der Welt verschwindet, sondern sich Ersatz sucht: aus orthodoxen Mitgliedern der Kommunistischen Partei werden Mitglieder der orthodoxen Kirche, aus Nazis werden Verfechter der freien Marktwirtschaft, aus Islamisten werden Kapitalisten, usw.
Für einen alternativen narrativen Plot, den ein jeder Mythos durch die Anordnung seiner Tropen innerhalb seines ihm gegebenen Zeitraumes, seiner chronos, formt, taugt die Zukunft als Sphäre des Nichtwissenkönnens und unbewältigter Kontingenz nicht. Deshalb werden entweder Themen der Gegenwart oder der Vergangenheit verdichtet. So wird versucht, über feste Gewissheiten Aussagen über die Sphäre des Ungewissen zu treffen und damit letztlich Kontingenz zu bewältigen.
Interessanterweise ziehen Glaubenssysteme unter der Vorannahme, es sei eine „Rückkehr der Religion“ zu beobachten, beträchtliches sozialwissenschaftliches Interesse auf sich, und es wäre hinsichtlich dieser Zuwendung zum Thema Glaubenssystem wahrscheinlich nicht übertrieben, von einem „Trend“ oder einer akademischen „Mode“ zu sprechen. Allerdings ist auffällig, dass unter Glaubenssystem kaum je soziale Kohäsion schaffende Phänomene wie das Geldsystem oder der Kapitalismus verstanden werden, sondern in erster Linie traditionelle Religionen. Dabei kann leicht übersehen werden, dass Religionen und nicht-transzendente Glaubenssysteme, ob „Zivilreligionen“ oder der Glaube an den Wert des Geldes, in wesentlichen Punkten der gleichen Logik verpflichtet sind: sie fußen auf letzten Gewissheiten, die als unumstößlich gelten. Wer trotzdem an den „gegebenen Gewissheiten“, quasi an den „Rohdaten“ des Glaubenssystems, zweifelt, betritt das gefährliche Gebiet der Häresie.
Häresie: das kommende Scheitern sehen können
Man betritt es besser nicht, ohne sich gut vorbereitet zu haben; die häretischen Distrikte des Denkbaren sind die traditionelle Domäne der Intellektuellen. Dynamische Gesellschaften, die in der Lage sind, sich den verändernden Bedingungen ihrer Zeit anzupassen, haben eine Möglichkeit gefunden, die es den Intellektuellen ermöglicht, oft gegen große Widerstände und Ignoranz, an den Fundamenten der Gessellschaft zu graben und nachzubessern. Weiterhin bemerkenswert an dem zu beobachtenden, generellen Trend des selektiven Interesses an Glaubensystemen ist seine Tendenz zu Konservatismus und Restauration. Dabei wäre es von großem Interesse, bekannter zu machen, woran Glaubenssysteme eigentlich scheitern.
Glaubenssysteme scheitern langsam
Ein Beispiel für ein gescheitertes Glaubenssystem – und es gäbe ihrer viele – bieten der griechische und römische Pantheon: kein Mensch ist heute ernsthaft in der Lage, an die Geschichten der Götter und Göttinnen mitsamt ihrer Eigenschaften im Sinne einer göttlichen, übermenschlichen und unumstößlichen Ordnung zu glauben. Man könnte die Metapher ausführen und sagen, die Ordnung sei regelrecht umgestoßen worden. Ein jeder Lateinschüler eines bayerischen Gymnasiums wird bei sich gedacht haben, wie naiv die Menschen der griechischen und römischen Antike doch gewesen sein müssen, was sich freilich leicht und alternativlos sagen lässt, da der Kaiser seit mindestens 2000 Jahren ohne Kleider da steht. Es muss sich während der monotheistischen Wende ein grundsätzlicher Perspektivwechsel der Menschen, ihre Sicht auf die Welt, ereignet haben, so dass die auch vorher bestehenden Vater-, Mutter- und Kindfiguren in mehrere Jahrtausende und bis heute andauernde, wenn auch zutiefst poröse Patriarchate übersetzt werden konnten. Es spielt dabei keine Rolle, um welche der drei großen monotheistischen Religionen mediterraner Provenienz es sich handelt (und dabei sehe ich von bereits früher weitestgehend gescheiterten monotheistischen Projekten ab): die einzige, unsäglich machtvolle, und in sämtlichen nicht-mystischen Orthodoxien in einer Vaterfigur kulminierenden Vorstellung vom „einen Gott“ ist dabei, immerhin vorübergehend und über einen beträchtlichen Zeitraum, als Siegerin hervorgegangen. Man muss dabei natürlich beachten, dass das „Umstoßen“ der alten Ordnung, der Perspektivwechsel der mediterranen und europäischen Menschen und ihre drastische Abwendung vom Götterglauben und ihre Hinwendung zum Gottglauben nicht auf einmal vonstatten gegangen ist, sondern sich teilweise über Jahrhunderte hingezogen hat, bis schließlich auch so spät christianisierte Gebiete wie das Baltikum vom monotheistischen Prinzip geprägt worden sind.
Aus diesem Grund sollte man auch heute nicht davon ausgehen, dass ein komplexes Glaubenssystem „ein für alle Mal“ aufhört, den Glauben der Menschen zu bannen – auch wenn es, wie die Genese der „Zweiten Moderne“ als Folge der „Ersten Europäischen Industriemoderne“ zeigt, der Menschheit und den nichtmenschlichen Lebewesen großen Schaden zufügt. Die Gewissheiten der „Ersten Europäischen Industriemoderne“, die übrigens nicht in erster Linie als ein wie auch immer ethnisch-religiös-sprachlich definiertes Kulturpaket verstanden werden sollte, basieren ebenso wie die polytheistischen und monotheistischen Religionen auf einem Glaubenssystem, was in den großen „Wirtschaftskrisen“ oder „Finanzkrisen“ besonders plastisch zu Tage tritt, auch wenn die Krisenmetapher den Eindruck vermittelt, es handelte sich um ein vom menschlichen Handeln und Glauben abgeschnittenes, „äußeres“ Phänomen wie dem Wetter, einem „Erdrutsch“ oder einem „Erdbeben“ im Bankensektor.
Ein (un)ausgesprochenes Problem: Gott und Vater im monogenetischen Monotheismus
Auch wenn ich mich persönlich von sämtlichen theistischen Vorstellungen verabschiedet habe – ohne dabei, oder wenigstens nur vorübergehend, in einen horror vacui gestürzt zu sein, und ohne dabei die spirituelle Pforte verschlossen zu haben – geht es mir nicht darum, irgendjemanden davon zu überzeugen, dass sein Glaubenssystem hinsichtlich der Frage nach Gott und sämtlicher Bezirke und Winkel von Transzendenz und Jenseitigkeit falsch sei. Es geht mir hier nur darum, zu verdeutlichen, mit welcher Ernsthaftigkeit und Zähigkeit das Denken affirmativer Intellektueller mit Kategorien des Glaubenssystems verwachsen ist. So strafbar wie der Atheismus in versteinern wollenden, sich bedroht fühlenden Gesellschaftsordnungen ist, und so selbstverständlich der monotheistische Gottglaube im geschlossenen und endlichen Denksystem des nicht-sozialistischen, nicht-säkularisierten Patriarchats ist, so groß ist die abhorrende Furcht des affirmativen Intellektuellen vor dem Kontrollverlust über die großen Gewissheiten.
Jeder Raum ist tropisch: hat seinen Osten, hat seinen Westen
Zu diesen großen Gewissheiten gehören die Raumordnungsmetaphern der Himmelsrichtungen, so dass ein jeder affirmative Intellektuelle seinen Osten und seinen Westen haben wird, was freilich nicht heißen soll, dass nicht auch Intelektuelle mit diesen Begriffen hantieren. Liest man ein „intellektuelles Werk“ wie das Buch Stratejik Derinlik von Ahmet Davutoğlu, oder auch – um es überdeutlich zu veranschaulichen – Alija Izetbegović’s Buch Islam between East and West, kann es nicht Wunder nehmen, dass in diesen Werken unhinterfragt, ausgiebig und selbstverständlich von der Metaphorik der Himmelsrichtungen Gebrauch gemacht wird. Wie allen komplexen Metaphern wohnen der Himmelsrichtungsmetaphorik ausführliche Narrative inne, die von epischer Läbge sein können und durch ihre relative Uneinheitlichkeit und Veränderbarkeit, durch ihre Ambiguität, für eine gewisse Dynamik sorgen und sich so ein langes Leben bescheren.
Die Trope Westen kann, zum Beispiel in der Türkei, einmal Inbegriff von Vorbildhaftigkeit, Fortschritt, Erfolg, Kultur und Prestigeträchtigkeit bedeuten, und ein andermal Dekadenz, Feindschaft, Bedrohung, sexuelle Freizügigkeit und Gottlosigkeit. Die geographische Verortung des Ostens und des Westens können sich verändern und werden, je nach Standpunkt der SprecherInnen, unterschiedlich interpretiert. Während Ungarn und die Tschechoslowakei im Kalten Krieg als Inbegriffe des Ostens galten, und folglich auch Forschungsgegenstand der Osteuropainstitute und Ostforschung waren, gelten ihre Nachfolgerstaaten sich selbst heute als Inbegriffe der Mitte Europas, die nichts mehr mit der prestigemindernden Zuschreibung Osten zu schaffen haben wollen. In Deutschland hat man nach wie vor seinen Osten im Osten Deutschlands. Die aus eurozentrischer Sicht östlichen Länder Türkei und Russland (der Osten schlechthin) haben wiederum in sich und für sich selbst ihren eigenen Osten, ob als Ferner Osten oder Südost-/Ostanatolien. Will man die Logik des Ostens und des Westens begreifen, bringt es also nicht viel, sich mit den Propositionen über den jeweiligen Osten zu beschäftigen. Das einzige verlässliche und konstante Merkmal der Ost- und Westsetzung, die sich ursprünglich von einem vor-heliozentrischen Weltbild ableitet, als mit hundertprozentiger Gewissheit Tag für Tag die Sonne im Osten auf- und im Westen unterging, ist die zwischen Osten und Westen liegende Binarität.
Der Blick der Kosmonautin: die Auflösung von Ost und West
Affirmative Intellektuelle lassen sich, trotz ihres Hangs zu Konservatismus, nicht ausschließlich als ältliche Vaterfiguren in Anzügen mit Bügelfalten und Krawatte versinnbildlichen; das sehr viel Bemerkenswertere am Betrieb der affirmativen Intellektuellen ist, dass sie oft in sorgfältig verdeckten Gestalten des Neo-Konservatismus daher kommen, zwar den Begriff des Kosmopolitismus falsch verstehen, ihn aber dennoch verwenden, und in allergrößter Inkonsistenz und Inkohärenz mit ebenso großer Selbstverständlichkeit ernsthaft mit der Metaphorik der Himmelsrichtungen argumentieren. Ich meine damit ärgerliche Diskussionen, die nicht zu Ende geführt werden können bzw. in denen man keinen bedeutenden Schritt weiter kommt, weil den nur scheinbar Diskutierenden nichts ferner liegt als die Zustände in Frage zu stellen. Will man aber „die Zustände betrachten“, also überhaupt erst einmal begreifen, wie es um die soziale Wirklichkeit bestellt ist, und will man anschließend dringend benötigte Antworten finden, wie mit den großen sozialen und naturräumlichen Herausforderungen unserer Zeit umzugehen ist, muss man sich in vollständiger Radikalität von seinem Osten und seinem Westen verabschieden, ohne dabei nihilistisch zu verfahren und so zu tun, als spielten diese Kategorien keine Rolle in der Konstruktion von Wirklichkeit, Ungleichheit, Ungerechtigkeit. Dies kann nur gelingen, wenn man Blick der Kosmonautin auf den gesamten Lokus der Menschheit – nämlich die Erde und ihre Umgebung – einnimmt. Es ist der Blick der Kosmonautin, der zu einem Paradigmenwechsel verhelfen könnte.
Der Blick der Kosmonautin betrachtet die Erde als Ganzes. Es ist der Menschheit, je nach Sichtweise, noch nicht allzu lange oder auch bereits seit sehr langer Zeit bekannt, dass die Erde ein ganzes, zusammenhängendes und interdependentes System ist. Ich wähle absichtlich den Begriff der „Kosmonautin“ an Stelle der „Astronautin“, weil die Kosmonautin relativ präzise den Begriff des Kosmos beinhaltet, wie er auch im Begriff des Kosmopolitischen ausgedrückt wird, wie ihn Ulrich Beck beschrieben hat. Das Festhalten an den alten Binaritäten, und zuvorderst an der Ost-West-Binarität, wird durch den Blick der Kosmonautin völlig ad absurdum geführt. Wer kann nach einem Blick aus einer die Erde umkreisenden Raumstation, gar vom Mond, auf die Erde denn noch ernsthaft einen geographischen Raum, einen bestimmten Kontinent, ein bestimmtes Land, ein bestimmtes politisches Glaubenssystem oder ein religiöses Glaubenssystem, mit einer der Himmelsrichtungen festschreiben wollen? Wer kann das große intellektuelle Werk Orientalism von Edward Said, der doch die Absurdität und gleichzeitig den großen Unnutzen der Himmelsrichtungsmetaphorik beschrieben hat, nicht weiterdenken wollen, um endlich aufzuhören, immer und immer wieder diese mit der Farbmetaphorik von Hell und Dunkel korrelierende, primitive Binarität zu reproduzieren? Der Blick der Kosmonautin von weit außerhalb der Atmosphäre auf die Erde ermöglicht die Feststellung, dass der Osten und der Westen permanent wandern, dass jeder beliebige Ort auf der Erde einmal im Verlauf von 24 Stunden zum Osten und zum Westen wird, und dass diese Sicht außerhalb des auf eine unglaublich kleine und habitable Zone begrenzten Planeten völlig irrelevant ist; verlässt man die Erde, gib es keinen Fixpunkt mehr, der die Rede vom Osten oder vom Westen unterstützen und plausibel machen würde.
Wir müssen normativ werden
Wer Ulrich Beck’s Werke liest, wird feststellen, dass es darin einen roten Faden gibt: es ist die Sorge um die bestehenden politischen und sozialen Gemeinwesen, die um einen Widerspruch lavieren, den es zu lösen gilt, wenn man schonungslos anerkennt, „dass wir ein Problem haben“. Und wir haben nicht nur ein Problem – wir haben ihrer viele. „Das Problem“, wenn man es so kurz und bündig zusammenfassen kann, besteht laut Beck darin, dass unsere Gemeinwesen und ihre Institutionalisierungen, wozu auch wissenschaftliche Institutionen und Paradigmen zählen, eng mit dem Prinzip der Nationalstaatlichkeit verwoben sind – während wir gleichzeitig in einem Zeitalter der Kosmopolitisierung leben, welches ebenso globale Antworten auf globale Fragen verlangt. Der Nationalstaat war immer eine ambivalente Angelegenheit. Durch seine exzessiven Homogenisierungstendenzen – dazu gehören Völkermorde und der Holocaust – ist der Nationalismus in Verruf geraten, auch wenn dies nicht in allen nationalistisch organisierten Öffentlichkeiten der Fall ist. Mit dem Nationalismus einher ging die Industrialisierung Europas und Nordamerikas, was neben anderen bestehenden Modernisierungsprozessen (zum Beispiel in Japan) große Veränderungen im Bereich des technologischen Fortschritts und der Innovationen auf allen Gebieten der Wissenschaft mit sich brachte. Deshalb spricht Beck auch von der „Ersten Moderne“ oder „Europäischen Industriemoderne“, deren Existenz und Relevanz man auch durch die wichtigen Diskussionen über „Multiple Modernen“ und „andere Modernen“, wie etwa in Shmuel Eisenstadts bekanntem Aufsatz Multiple Modernieties aus dem Jahr 2000, nicht wird bestreiten können. Den „Modus“ der Ersten Moderne hat Beck als Risikogesellschaften beschrieben, weil einer ihrer Haupteffekte die Herstellung von Unsicherheiten war und ist, versinnbildlicht in der existenziellen Katastrophe von Tschernobyl 1986.
Bereits Hannah Arendt hat der Möglichkeit, die gesamte Menschheit und möglicherweise alles Leben auf der Erde durch die Atombombe auszulöschen eine paradigmatische, „nie dagewesene“ Bedeutung eingeräumt. Es ist Ulrich Becks Verdienst, nachdrücklich einen Paradigmenwechsel gefordert zu haben, und zwar mit dem Begriff des normativen Kosmopolitismus.
Das Argument von Beck ist nicht etwa, weniger industrialisierte oder durch die Indutriemoderne peripherisierte und ausgebeutete Länder zu ignorieren und ihnen nicht gerecht zu werden. Beck argumentiert überzeugend, dass es sich um eine auf der Hand liegende Tatsache handelt, dass die von den „hoch entwickelten“ Industriestaaten verursachten Risiken und Unsicherheiten zu einem menschlich induzierten Klimawandel geführt haben, der gerade die „weniger entwickelten“ Staaten stärker betrifft als Europa oder Nordamerika, die sich besser schützen können. Generell aber ist kennzeichnend für all diese Herausforderungen, dass es sich um globale Phänomene handelt, die auch nur global angegangen werden können. Jede nationalstaatlich begrenzte Sichtweise ist zu eng und begrenzt. Dabei mag sich der Blick der Astronautin auch wieder als hilfreich erweisen.
Zum Beispiel Sicherheit
Die empirisch längst nachgewiesene Erkenntnis, dass die angebliche Herstellung von Sicherheit, sofern sie im Rahmen eines Nationalstaats gedacht wird, oft im Keim die Herstellung von Unsicherheit für andere bedeutet, und zwar mit Rückkopplungseffekten auf die „Sicherheitsproduzenten“, muss dringend die Ebene der Theorie verlassen. Es müssen Sicherheitskonzepte umgesetzt werden, die greifen.
Aus einer kosmopolitischen Haltung heraus formulierte Sicherheitskonzepte haben zum Beispiel UN-Mitarbeiter während der 1990er Jahre angesichts des Scheiterns und nicht greifen Könnens nationalstaatlicher Sicherheitskonzepte während der Völkermorde in Jugoslawien und Ruanda formuliert. Sie haben den als humanistisch belächelten Begriff der Human Security geprägt, mit dem sich zu beschäftigen in diesem Zusammenhang lohnt.
[Dieser Abschnitt über Human Security wird erheblich ausgebaut, wobei mir schwerfällt, mich zu begrenzen]
Die nutzlose, ernst zu nehmende Rolle affirmativer Intellektueller
Stattdessen scheinen viele affirmative Intellektuelle mit nichts anderem beschäftigt zu sein, als ihre jeweilige Vorstellung von Osten und Westen zu reproduzieren, weil sie daran scheitern, die Bedeutung dieser Binarität als das zu begreifen, was sie ist: als nicht zeitgemäß. Mit dem Blick der Kosmonautin könnten sie sehen, dass diese Binarität schädlich und unwissenschaftlich ist. Trotzdem werden Ost- und Westsetzungen sogar noch „erforscht“, wie „Rohdaten“ behandelt, beschrieben und aus einer konservativen Haltung reproduziert, ohne sie radikal in Frage zu stellen. Kritisiert wird der negative Einfluss der „gegnerischen Himmelsrichtung“, während die unter der eigenen Patronage stehende Seite idealisiert und romantisiert wird.
Man darf von affirmativen Intellektuellen nicht zuviel erwarten. Sie sind, sofern sie ihre Sicht auf die Welt nicht ändern, für den Erkenntnisgewinn verloren. Sie sind allerdings im Stande, großen Schaden anzurichten, wie das Wirken nationalstaatlich organisierter „Wissenschaftsinstitutionen“ zeigt. Für die Jugoslawienkriege der 1990er Jahre ist dies ausführlich beschrieben worden, um nur eines von unzähligen Beispielen zu nennen und erst gar nicht mit der Mitwirkung von „Intellektuellen“ an den Nazi-Verbrechen anzufangen. Diese „Intellektuellen“ haben ihre Fähigkeit der intellektuellen und radikalen in Frage Stellung zumindest für eine Zeitlang aufgegeben und sich oft dauerhaft diskreditiert, da ihre Projekte in Schande scheitern mussten; sie wurden zu affirmativen Intellektuellen, die wegen ihres Vokabulars und Wissens wichtige Gesinnungshelfer für faschistische Regime wurden. Intellektuelle dagegen stellen Zustände in Frage und werden Hannah Arendts „Nativität“ am ehesten gerecht: sie streben nämlich der Möglichkeit zu, neues zu gebären.
1. Beck, Ulrich (Hg.)(2000): Freiheit oder Kapitalismus: Gesellschaft neu denken. Ulrich Beck im Gespräch mit Johannes Willms. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 23-24
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