[Presse] Söders „Asyltourismus“: Vom Asylkompromiss 1993 zum Koalitionsstreit 2018

Der „Asyltourismus“ der 71 Erstickten

Kann man die Äußerungen der CSU-Politiker Horst Seehofer und Markus Söder zum „Asylstreit 2018“, wie der Diskurs hier provisorisch genannt sei, anders als zynisch und niederträchtig bezeichnen?

Besondere Prominenz hat in den letzten Tagen Markus Söders Verwendung des Wortes „Asyltourismus“ erfahren: der „Asyltourismus“ müsse endlich aufhören, es müsse eine europäische Lösung gefunden werden. Wie Matern Boeselager in VICE betont, bezieht sich der CSU-Mann damit nicht auf die Asylsuchenden an den europäischen Außengrenzen — um welche es in diesem Beitrag noch gehen wird; Die CSU, so schreibt der Autor richtig, will die Asyldebatte „europäisieren“ und verlagern, und meint mit dem Wort „Asyltourismus“ diejenigen, die bereits die Außengrenzen der EU hinter sich gelassen haben und sich innerhalb der EU bewegen; die Bayern „bedrohen“. Damit wird der Zynismus nicht weniger zynisch — denn nicht nur an den ägäischen, maltesischen, sizilianischen und spanischen Gestaden wird gestorben:

Im August 2015 entdeckte die österreichische Polizei einen abgestellten Kühllaster in einer Autobahn-Pannenbucht nahe der ungarischen Grenze. Der Fahrer war nirgends zu sehen, die Türen des Laderaums waren verriegelt. Als die Polizisten sie aufbrachen, fanden sie darin 71 erstickte Männer, Frauen und Kinder – aus Syrien, dem Irak, Afghanistan und Iran. „Asyltouristen“, wie Markus Söder sagen würde.

Interessanterweise ist das Wort „Asyltourismus“, das jetzt seinen Eingang in die Ställe, an die Stammtische der CSU gefunden hat, in den vergangen Jahren (gewissermaßen erwartungsgemäß) ein von der NPD verwendeter Begriff gewesen. Aber nicht nur: wie der Autor unter anderem durch Google Ngram Viewer nachweisen kann, taucht das Wort als gängige Vokabel in (inzwischen digitalisierten) Büchern der frühen 1990er Jahre auf. Es hat also gewissermaßen schon „Stallgeruch“ und musste von Söder nicht neu erfunden oder der NPD entlehnt werden. Damals, ähnlich wie heute, wurde eine „Asyldebatte“ geführt. Darüber hinaus fallen die eine oder andere Parallele mehr zu den 1990er Jahren auf: während die Skandalisierung des vormals vorbildlichen deutschen Asylrechts 1993 schließlich in den „Asylkompromiss“ mündete — und damit der weitgehenden, de facto Abschaffung des Rechtes auf Asyl — herrschte eine vorher nicht da gewesene, öffentliche Stimmung des deutschen Nationalismus vor.

„Asyltouristen“ als die Anderen und die Emotionen der Nation

Der Unterschied besteht freilich darin, dass die institutionelle BRD-Integration der DDR (sogleich mythisch-metaphorisch zur „Deutschen Wiedervereinigung“ verbrämt) gerade stattgefunden hatte; die gesellschaftliche „Integration“ von „Wessis“ und „Ossis“ zu „Deutschen“ — zum Wir sind das Volk — hat aber nicht recht funktionieren wollen, woran auch Pegida, Legida, AfD und Konsorten nichts ändern können. Landschaften wollten nicht aufblühen; Städte wurden zurückgebaut; es kam zu einer beachtlichen und lang anhaltenden Binnenmigration von Ost nach West. Die heutigen Integrations- und Desintegrationsprozesse tragen zwar noch an den Folgen jenes Jahrzehnts — sie sind aber trotzdem andere und haben sich auch ganz anderen Herausforderungen zu stellen. Dennoch scheinen sich Anleihen aus den 1990er Jahren CSU-Politikern wie Markus Söder und Horst Seehofer aufzudrängen.

Eine häufig bemühte Chiffre für gesellschaftliche Integration bietet das rituelle Auftreten und Ankämpfen des global inszenierten Massensports Fußball mit seinen „(National-)Mannschaften“. Als etwas „mager“ erwies sich damals jedoch die integrative Ausbeute der in Italien ausgetragenen Fußballweltmeisterschaft von 1990. Im Nachhinein betrachtet zeugt die WM 1991 noch einmal von den epochalen Veränderungen der frühen 1990er Jahre: zum ersten Mal spielte eine „wiedervereinigte deutsche Nationalmannschaft“ — und es kann nicht Wunder nehmen, dass der „deutsche Sieg“, die „Deutsche Weltmeisterschaft“ nicht allen außenstehenden Beobachtern geheuer war. Während also die deutsche Mannschaft zum ersten Mal spielte, spielten die jugoslawische, die tschechoslowakische und die sowjetische Mannschaft zum letzten Mal bei einer Fußball-WM, und im jugoslawischen Fall könnte man sagen: vor dem Krieg. Europa bestanden Kriege, Vertreibung und Flüchtlinge bevor. In Deutschland wurden die Flüchtlinge zwar in großer Zahl aufgenommen – nicht aber mit offenen Herzen empfangen. In Deutschland kam es zwar nicht zu Krieg; der Nationalismus brach sich aber trotzdem Bahn, und zwar in den rassistischen Pogromen, in den Mordanschlägen und in der Neo-Naziwelle der anschließenden Jahre.

Söders Reste-Recycling von Religion

Eine weitere Parallele zu den 1990er Jahren — wenn auch zeitlich gegen Mitte und Ende des Jahrzehnts angesiedelt — fällt bei Markus Söders „Reste-Recycling“ von Religion auf. Söder ist, wie die Zeit am 25. April nicht ohne Anerkennung der Intelligenz des Mannes schrieb, in den letzten Wochen durch seine Anordnung der Kruzifixpflicht in öffentlichen Behörden Bayerns in die Schlagzeilen geraten. Sehenden Auges – bewusst –  nimmt er in Kauf, dass seine Kruzifixnummer scheitern muss:

Der bayerische Ministerpräsident ist ein intelligenter Mann, der eine Zeit lang an einem Lehrstuhl für Staats- und Kirchenrecht forschte. Insofern ist völlig ausgeschlossen, dass Markus Söder nicht weiß, dass spätestens das Bundesverfassungsgericht seine Anordnung kassieren wird, ab dem 1. Juni im Eingangsbereich jeder staatlichen Behörde in Bayern ein Kreuz aufzuhängen.
Er weiß aber auch, dass die Abnahmeanordnung wohl nicht vor der Bayerischen Landtagswahl am 14. Oktober kommen wird. Sprich: Söder und seine CSU können sich einen Sommer lang als Heilige Sebastiane aufführen, die wegen ihres Bekenntnisses zum christlichen Erbe von allerlei miesen Bogenschützen attackiert werden. (Zum SZ-Artikel)

Es gab in den 1990er Jahren schon einmal einen „Kruzifixstreit“ in Bayern — mit seinen Höhepunkten im Kruzifix-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 16. Mai 1995 und der Zurückweisung von Popularklagen gegen die Nichtumsetzung des Kruzifix-Urteils von 1997.

Ich war damals gerade Schüler an einer „fränkischen Lateinschule“, einem bayerischen Gymnasium also. Gymnasien waren zwar angeblich von der „Pflicht“, ein Kruzifix oder „Lateinisches Kreuz“ aufzuhängen, ausgenommen; an unserem Gymnasium wurde dies trotzdem praktiziert, und bayernweit müssen die Zustände ähnlich gewesen sein, wenn ich den Berichten von Schülerzeitungskolleginnen anderer bayerischer Gymnasien immer noch Glauben schenken darf. Außerdem lag auf dem Lehrerpult eines jeden Klassenzimmers eine Klarsichtfolie mit ausgedruckten Gebeten bereit, die täglich zu Unterrichtsbeginn, um 8:00 Uhr, wenn auch nicht von allen, so doch von vielen Lehrerinnen laut vorgelesen (lassen) wurden. Man war angehalten, zum Gebet aufzustehen. Man konnte sich enorm unbeliebt machen und „Ruf erwerben“, wenn man sitzen blieb, sich weigerte zu beten, religionsfeindliche Symbole auf dem Tisch bereitstellte – oder gar anfing, die gängige Praxis laut in Frage zu stellen.

Jedes Mal, wenn man die Bet-Folie verschwinden ließ, tauchte sie gleich wieder auf. Ganz eifrige Lehrer — einer verdiente sich von uns den Spitznamen Gott — lasen gar täglich gütig lächelnd einen Ausschnitt aus Bibel vor. Bei den Kreuzen handelte es sich streng genommen um gar kein „Lattengustel“, wie man ein Kruzifix mit dem gemarterten Jesus in Bayern auch blasphemisch nennen kann — und unter Umständen sogleich mit einer Blasphemie-Klage zu rechnen hat:

1996: Wilhelm Gegenfurtner erstattet Anzeige gegen den Juso-Vorsitzenden Florian Pronold, der Jesus als „Lattengustl“ tituliert hatte. (Quelle: SZ vom 4.8.2012)

Die Kreuze waren einfache, hellbraune, in einander verschränkte Holzscheite, die an einem Nagel an der Wand über der Tür hingen. Man konnte sie in seinem Widerstand recht gut manipulieren, indem man sie an die äußerste Kante des Nagellochs hing, so dass sie gerade noch an der Wand hingen, um beim Verlassen des Zimmer mit schlagender Tür die elastische Wand des Klassenzimmers so zum Beben zu bringen, dass das Kreuz beim Verlassen des Raums herabfiel; manchmal – sehr selten – wollte es einem mit dieser Methode auch gelingen, das Kreuz genau dann zu Fall zu bringen, wenn die Lehrerin/der Lehrer den Raum betrat. Was dagegen nie gelang, war eine nachhaltige Entfernung des Kreuzes: ebenso wie die Bet-Folie tauchte jedes entfernte Kreuz gleich nach seinem „Entrücken“ aus einem uns lange Zeit unbekannten Reservoir wieder auf. Eines Tages haben wir gesehen, dass es eine Absprache mit der Hauptschule im gleichen Gebäude gegeben haben muss: die Hauptschülerinnen fertigten im „Werken“-Unterricht den Nachschub an Kreuzen an.

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