Es lohnt sich, auch dann Freundlichkeit auszustrahlen, wenn es Überwindung kostet; eine Binsenweisheit, ein Klischee, ein Gemeinplatz — aber auch eine Lektion, die mir einst ein junger Mann names Washington auf dem Pelourinho, dem Altstadtkern der brasilianischen Stadt Salvador da Bahia, eingeschärft hat, wie mir dazu — hinsichtlich meines Forschungsthemas vielleicht etwas weit hergeholt — einfallen will. Aus der Öffentlichkeit der Praça da Sé heraus hatte mich Washington angesprochen, weil er meinen Gesichtsausdruck inakzeptabel fand. Er bat mich, ihn zu ändern: zu lächeln. Begründung: „Du bist in Brasilien! Lächle!“
— Was für ein Klischee! Wieso sollte ich bitteschön lächeln, da ich mich doch kurz zuvor mit meiner Schwester gestritten hatte, da mein Gemüt verfinstert war?
In radebrechendem Portugiesisch, von welchem viele Einwohner Brasiliens offenbar annehmen, jeder Mensch von überall her spräche es ebenso selbstverständlich wie sie selbst, muss ich Washington wohl meine Verwirrung deutlich gemacht haben. In einer Bar unterhalb des Pelourinhos, in der direkt angrenzenden Favela, wohin er mich zum späteren Entsetzen meines in Pernambuco wartenden, brasilianischen (Ex-)Mannes anschließend eingeladen hat, hat er mir die Aufforderung zum Lächeln mit dem Konzept von Axé erklärt. Axé ist ein Wort aus dem Candomblé, der zusammen mit Macumba und Umbanda bekanntesten afrobrasilianischen Religion, und ist auch in Westafrika in der Religion der Yoruba bedeutungsvoll, von wo es wie so vieles in der bahianischen Alltagskultur, mit den Sklaven nach Brasilien gelangt ist. Axé, so hat mir Washington erklärt, bedeute an der nordostbrasilianischen Bahia de Todos os Santos, auch dann ein Lächeln aufzusetzen, wenn man, wie die vielen Straßenkinder und Elenden der Stadt, davon leben müsse, an den dienstäglichen Open-Air-Musikveranstaltungen im Pelourinho Aluminiumverschlüsse von Getränkedosen zu sammeln. Noch heute frage ich mich, warum überall um uns herum Straßenkinder nur die Aluminiumverschlüsse sammelten — nicht aber die Dosen. Und wahrscheinlich frage ich mich das, weil man sich in Deutschland, wo das Pfandflaschensammeln in öffentlichen Parks ein durchaus vergleichbares beobachtbares Phänomen darstellt, nicht fragen muss, worin der Unterschied des Wertes von Blech und Aluminium einer weggeworfenen Getränkedose besteht, solange sie mit einem Pfandzeichen versehen ist.

Damit wäre ich vorerst beim Gemeinplatz in Brasilien lächeln sie angelangt, den ich hier einleitend als Beispiel nutze, um die schiere Relevanz von Gemeinplätzen, Klischees und Stereotypen zu verdeutlichen, die oft metaphorisch erzählt werden. Nach einer kurzen Betrachtung des Gemeinplatzes in Brasilien lächeln sie über die Alltagsstrategie Axé will ich auf die „Zentralmetapher“ und den zentralen Gemeinplatz der bosniakisch-türkischen kommunikativen Figuration in aller Ausführlichkeit eingehe: die Brückenmetapher.
Einer der alltagspraktischen Hintergründe, die hinter Axé als Einstellung und Haltung stehen, kann man, sinngemäß laut Washington, mit folgenden Fragen formulieren: Was soll man sich das Leben auch schwerer machen, als es ist? Und vor allem: warum sollte man anderen Menschen durch negative Energie das Leben schwer machen, wo doch viele Menschen ohnehin ein schweres Leben führten? Axé bedeutet in etwa „positive Energie“, und hat neben seiner Bedeutung als Strategie der Alltagsbewältigung weitere spirituelle, musikalische und kulturelle Bedeutungen. Es kann aber, so zumindest wurde es mir von Washington erklärt, den Gemeinplatz in Brasilien lächeln sie aufzulösen helfen. Ich persönlich kann, ganz im Gegensatz zum Gemeinplatz, keineswegs für ganz Brasilien sprechen, da ich nur den Nordosten und Amazonien bereist habe; aber tatsächlich wird man in Salvador, um sich auf diese eine brasilianische Stadt zu beschränken, kaum je ein miesepetriges, übellauniges Gesicht sehen, obwohl Salvador ein Ort großer Armut und sozialer Ungleichheit ist. Dagegen kann man in Salvador viel Axé begegnen: nach Axé ist ein ganzes bahianisches Musikgenre benannt, Axé steht gewissermaßen identitätsstiftend für die bahianische Kultur, und mit der Formel Axé kann man sich auch grüßen: „Axé, Washington!“
Diese Geschichte ist viel mehr als vielleicht einfach „nur nett“. Sie ist nicht nur ein Beispiel für einen in Salvador schnell angebahnten „Flirt“ (der gar keiner war), und sie ist nicht allein ein klischeehafter Reisehinweis aus dem Lonely Planet zur generellen Kommunikativität und Aufgeschlossenheit der Menschen, die mir während meiner sechswöchigen Reise überall in Bahia, Pernambuco, Maranhão und Amazonien aufgefallen ist, und wie man sie hierzulande gewiss nicht in derselben Form und Regelmäßigkeit antrifft; und freilich ist dieser Gemeinplatz — isoliert, kontextlos und un-übersetzt betrachtet und wiederholt — ein Klischee, das vielleicht, wenn auch nur sehr mühsam, über die Härten des Alltags brasilianischer Städte wie Salvador, Recife, São Luís und Manaus hinwegtäuschen kann.
Eine Stadt wie Recife etwa ist von so großer und allgegenwärtiger Gewalt geplagt, dass man als Reisender den Warnungen der brasilianischen Freunde am Anfang vielleicht gar nicht glauben will. Natürlich sieht man sofort: es ist nicht tudo bem, tudo massa. Die Menschen mögen viel lächeln — doch die Mordrate in Brasilien ist horrend hoch. Jeder, der es sich leisten kann, umgibt sein Haus mit einer Mauer, auf der Glasscherben einbetoniert sind oder ein Elektrozaun angebracht ist. Man versteht vielleicht nicht sofort, warum es hochgradig lebensgefährlich sein soll, ab 18 Uhr, nach Einbruch der Dunkelheit, die Straße zu betreten, weil man jederzeit für eine Kleinigkeit erschossen werden kann, und hält die ständigen Sicherheitswarnungen der Brasilianer für übertrieben; bis einem der Betreiber der barraca am Strand erzählt, seine Tochter sei an eben diesem Strand wegen ihres Mobiltelefons ermordet worden, um einen sogleich aufzufordern, den Strand jetzt zu verlassen, da man eigentlich noch den aus dem Atlantik aufgehenden Mond fotografieren will; es sei jetzt schon lebensgefährlich, sich hier aufzuhalten — vor allem mit einer Digitalkamera.

Zynischerweise dient der Gemeinplatz in Brasilien lächeln sie aber auch als Marktwert der Tourismusbranche, die Touristen in ein Land locken will, wo sie lächeln:
Em 1979, a Bahiatursa (Empresa de Turismo da Bahia S/A) criou o slogan “Bahia terra da felicidade”, e passou a veiculá-lo no mercado internacional como um a das estratégias da política de promoção e captação de vôos internacionais. Ao longo dos anos, novos slogans com idéias similares foram criados. Um exemplo foi “Bahia terra da alegria”, veiculado em 2003. (Quelle: EUFRÁZIA CRISTINA MENEZES SANTOS: PERFORMANCES CULTURAIS NAS FESTAS DE LARGO DA BAHIA, S.6)
Diese Reiseerlebnisse aus Brasilien bieten, bei näherer Betrachtung, Einblicke in eine diskursive Strategie der Alltagsbewältigung in Bahia, und zwar über Axé. Da Axé oft als Gemeinplatz daherkommt — in Brasilien lächeln sie — und nicht in enzyklopädischer Ausführlichkeit als Alltagsstrategie und Handlungslogik explizit gemacht wird, mag man den Gemeinplatz in Brasilien lächeln sie als Klischee geringschätzen und ihm keine größere Beachtung schenken, um sich für eine „echtere“, „empirischere“ Beschreibung und Erfassung der Wirklichkeit von Gesellschaft auf zahlenmäßiges, statistisch Gegebene (Daten) zu fokussieren — vielleicht in diesem Fall die Dosenverschlüsse aus Aluminium und die Armutsstatistik. Man mag den Gemeinplatz in Brasilien lächeln sie sogar, angesichts der schieren Gewalt und Armut, als unverantwortlichen Zynismus verurteilen, und seine Relevanz als diskursives, soziales Phänomen — als eine Art Lobklatsch — zurückweisen. Die Bemühung dieses Gemeinplatzes kann als Ausdruck naiven, folkloristischen Kitsches verstanden werden. Gemeinplätze können abgestritten werden; es kann ihnen entgegen gehalten werden, nichts mit der Wirklichkeit zu tun zu haben, ja: „falsch“ zu sein. Und trotzdem spielen Gemeinplätze eine wichtige Rolle in der Handlungslogik des Alltags — was sie zu einem interessanten Phänomen für die Diskursanalyse macht.
Riskante Gemeinplätze
Das Beispiel des mit Axé erklärbaren Gemeinplatzes in Brasilien lächeln sie, wenn ich ihn so nennen darf, der als Bewältigungsstrategie eines schweren und gefährlichen Alltags, zur Konfliktvermeidung und Deeskalation interpretiert werden kann, finde ich an dieser Stelle als mehrgestaltiges Beispiel einer diskursiven Strategie und eines Klischees insofern passend, als es auch in meinem Forschungsthema permanent um die Verwendung von Klischees, Stereotypen und Gemeinplätzen geht; ständig werden von den Textproduzentinnen der von mir beschriebenen, „kommunikativen bosniakisch-türkischen Figuration“ Tropen wie Metaphern (Metonymien, Synekdochen, Ironie) produziert, die Gemeinplätze und Raum produzieren. Obwohl Gemeinplätze, Stereotypen und Klischees als grobe Vereinfachungen, als „grob geschnitzt“ und damit eigentlich leicht verständlich gelten, ist es aber ausgesprochen kompliziert und riskant, sich in allzu große Nähe von Gemeinplätzen zu begeben: die Reproduktion von Gemeinplätzen, Stereotypen und Klischees, von der man sich abgrenzen und die um jeden Preis zu vermeiden ist, gilt aus gutem Grund als unredlich. Schon deshalb muss sich eine Beschäftigung mit Gemeinplätzen fragen (lassen), wie sie sich selbst zu diesen Gemeinplätzen verhält.
So gilt es im engeren wissenschaftlichen Feld der Südosteuropaforschung als gefährliche Unredlichkeit, in den Verdacht zu geraten, man reproduziere mit seiner Forschung den Gemeinplatz, auf dem Balkan hassten sich die Menschen gegenseitig aufgrund ihrer unterschiedlichen „ethnischen Zugehörigkeit“ – überdies seit Jahrhunderten, um im Fall von Konflikten ganz schnell bei der Waffe zu sein; analog zum Gemeinplatz in Brasilien lächeln sie, könnte dieser Gemeinplatz lauten: auf dem Balkan hassen sie sich. Wie schnell man als Forscher und Schreibender selbst in die Nähe dieses Gemeinplatzes geraten kann, und ihn vielleicht ungewollt und ohne böse Absicht selbst reproduziert, erklärt sich angesichts der Prominenz und extremen Dichte von Forschungsthemen zu Themen wie interethnische Konflikte, Gewalt und die Jugoslawienkriege der 1990er Jahre von selbst.

Auch meine Arbeit beschäftigt sich mit einem solchen Thema und gerät dadurch in die Nähe des Gemeinplatzes. Schließlich frage ich, welche Rolle das Thema muslimischer Migrationen der weiter zurückliegenden Vergangenheit im diskursiven Hin- und Herrennen der Kulturdiplomatie zwischen Bosnien, der Türkei und dem Raum dazwischen der relativ nahen Vergangenheit und Gegenwart spielen. Die meisten dieser Migranten sind aus einer Not heraus migriert, die tatsächlich mit „zwischenethnischen Spannungen“ zu tun hatte. Darüber hinaus werden zahlreiche weitere Gemeinplätze untersucht: es ist die Rede von bosniakisch-türkischer Freundschaft; davon, eine Familie zu sein, dabei für den anderen die Rolle des großen Bruders zu spielen; es ist von den osmanischen Nachfahren zu sprechen, vom Antritt des osmanischen Erbes, von der Rückkehr der Türkei auf den Balkan, und, ganz zentral: davon, dass die Migranten vom Balkan eine Brücke zwischen Europa und der Türkei, zwischen Ost und West, bilden. Die Wirkmächtigkeit all dieser und weiterer Gemeinplätze sollte man im „diskursiven Hin- und Herrennen“ zwischen Sarajevo und Istanbul auf gar keinen Fall geringschätzen — da es augenfällig ist, dass es einen Zusammenhang zwischen ihrer ständigen Verwendung und der Herstellung und Gentrifizierung von Raum gibt, ganz zu schweigen von ihrer schieren Dichte.
Nicht überall lächeln sie
[Dieser und die weiteren Abschnitte werden gerade überarbeitet]
Although numerous studies confirm that positive perceptions of smiling individuals seem to be universal, anecdotal evidence suggests that in some cultures the opposite may be true. For example, a well-known Russian proverb says [smiling with no reason is a sign of stupidity]. The Norwegian government humorously explains nuances of Norwegian culture by indicating that when a stranger on the street smiles at Norwegians, they may assume that the stranger is insane (EURES 2010). British authors of a popular guidebook about Poland warn tourists that smiling at strangers is perceived by Poles as a sign of stupidity (Bedford et al. 2008). Even Darwin (1872/1998) wrote about ‘‘the large class of idiots who are…constantly smiling’’ (p. 199).[1]
IN MEMORIAM VANADIS MÖLLER
[1] Kuba Krys (et al.)(2016). Be Careful Where You Smile: Culture Shapes Judgments of Intelligence and Honesty of Smiling Individuals, in: J Nonverbal Behav (2016) 40:101–116
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