Die grundsätzliche Benennungsschwierigkeit der „Nachfolgesprachen des Serbokroatischen“
Es besteht nach wie vor große Uneinigkeit darüber, wie die Sprachen zu nennen sind, die eine kluge Berliner Kollegin einmal sehr diplomatisch als „Nachfolgesprachen des Serbokroatischen“ bezeichnet hat. Weiterhin besteht sogar Uneinigkeit und Zerwürfnis darüber, ob es sich überhaupt um mehrere Sprachen handelt – oder nicht vielleicht doch um ein und dieselbe, plurizentrische Sprache einschließlich ihrer Dialekte, wie etwa die Linguistin Snježana Kordić aus Kroatien in ihrer vielbeachteten Monographie Jezik i nacionalizam argumentiert. Selbst wenn die Frage der zahlenmäßigen Gestalt jenes Sprachphänomens, das fortan jezik* genannt sei, zugunsten post-serbokroatischer Vielheit (und damit sprachnationalistisch) beantwortet wird, was die Mehrheit der Lehrmeinungen darzustellen scheint, herrscht aber immer noch zuweilen Uneinigkeit darüber, um wie viele Sprachen es sich denn genau handeln soll. Über diese Fragen entscheiden unter den mit voller Wucht eingesetzten Bedingungen der Digitalen Revolution Vertreterinnen nationalistisch fragmentierter Akademien keineswegs mehr alleine, obwohl es nach wie vor eifrig engagierte Sprachnationalistinnen gibt, die allen Sprecherinnen von jezik* das Recht absprechen wollen, jezik* als Kollektivum überhaupt benennen zu dürfen. Weniger denn je gilt das autoritative Wort alter Patriarchen, gelten historische (Il-)Legitimität verschaffende, autoritative Lehrsätze aus der jugoslawischen Grundschule als verbindlich; und zwar in einem Maße, wie es die Prosumentinnen neuer Medien verstehen, sich im world wide web Aufmerksam zu verschaffen und die diskursive Wirklichkeit mitzugestalten; man könnte wahrscheinlich also argumentieren, dass heute alle Sprecherinnen von jezik* mehr denn je mitentscheiden können, wie sie die Imago ihrer jezik* nennen.
So können die einen den anderen Sprecherinnen die Existenz der jeweils anderen Imago des untereinander wechselseitig verständlichen Phänomens jezik* nach wie vor absprechen und behaupten, Sprecherinnen der „abgesprochenen“ Sprach-Imago sprächen eigentlich eine andere, meist ihre Sprache; sie würden die historisch und mit allerlei Linguistik begründete Essenz ihrer gesprochenen Sprache halt nur nicht kennen, gar verfälschen. In den frühen 2000ern und davor war dies ein häufiger Streitpunkt hinsichtlich der behaupteten (Nicht-)Existenz der bosnischen Sprache, die vor dem jugoslawischen Zerfall nicht offiziell kanonisiert und auch danach stets stärker bedrängt war als die durch alte Lehrsätze umhegte kroatische oder serbische Imago des Phänomens jezik*. Heute, unter anderem durch die zähe, visionslose Internationalisierung des Bosnienkonflikts und durch das verzweifelte Festhalten aller Konfliktparteien am status quo, trifft man diese Absprache wesentlich seltener an. Man ist sich missgünstig – man hat sich aber auch gegenseitig, und nur weil man sich und den Konflikt gegenseitig hat, sitzt man in seiner fotelja, dem Sessel – und man weiß das auch.
So ist es einzuordnen, wenn etwa der bosnisch-serbische „Präsident“ der sogenannten „Serbischen Republik“ innerhalb des „Staates“ Bosnien-Herzegowinas, Milorad Dodik, in symbolischer Krawallsprache an die eingebildete Überlegenheit der eigenen Imago und die „Inexistenz“ der bosnischen Imago appelliert. Erst so ein regelmäßig benötigter Affront bietet bosniakischen Nationalistinnen wieder Aufwind und Rückhalt, und so fort. Das Volk kann dann glauben, der Krieg bräche bald wieder aus, und nur der Mann im Sessel kann das verhindern, wenn man ihn das nächste Mal wieder wählt. Als hätte sich das strauchelnde Patriarchat, das sich mit den unerwünschten Zersetzungsprozessen nicht abfinden will, noch einmal in Bosnien verabredet, werden allerlei weitere große Männer herbeigeholt, wie der russische Herrscher Putin und der türkische Despot Erdoğan, um sich nur irgendwie zur Wehr setzen zu können und in der fotelja sitzen bleiben zu können.

Ich will in diesem Beitrag einen Blick auf den metamorphen Prozess werfen, dem das Sprachsystem jezik* als Diskurs unterzogen wird, und die vorläufigen Ergebnisse oder Zwischenstände dieser Prozesse mit der diskursiven Praxis kontrastieren, die entsteht, wenn wir sprechen. Wie allen Leserinnen dieses Blogs längst bekannt ist, beschäftige ich mich mit Metamorphosen und bin dabei inspiriert von Ulrich Becks Metamorphose der Welt. Nun läge bei der Beschäftigung mit einem Sprachsystem wie jezik* nahe, direkt an den in der Sprachwissenschaft verbreiteten und fest etablierten Begriff der Formenlehre, der Morphologie, anzuschließen, um sich im gleichen Schritt zu fragen, wie sich Morphe, Morpheme, Allomorphe verändern, meta-morph sind oder werden.
Das wurde und wird aber meiner Ansicht nach bereits ausreichend getan, und darüber hinaus sind die beständigen Unternehmungen, morphologische Unterschiede festzustellen oder anzugleichen, Teil eines metamorphen Prozesses, den ich aus einem anderen Blickwinkel betrachten will; so sind deskriptive Grammatiken nicht nur deskriptiv, und kontrastive Grammatiken nicht nur kontrastiv, sondern, sofern sich jemand für sie interessiert und sie etwa in Schulen und in der Sprachwissenschaft als Referenzen Verwendung finden, immer auch präskriptiv.
Es sei nur kurz daran erinnert, dass in Kroatien in großem Maße Wörter erfunden, wiederentdeckt und „bereinigt“ worden sind; dass in Bosnien unter Vertreterinnen der bosnischen Sprache Turzismen (die man eigentlich Osmanismen oder Orientalismen nennen sollte) reaktiviert und forciert worden sind; dass in den serbisch bewohnten Gebieten Bosniens heute oft etwas willkürlich und unstet ekavisch geschrieben wird, obwohl ijekavisch gesprochen wird. Hier geht es mir aber nicht um die Feststellung der Unterschiede, indem ich die morphologischen Unterschiede in der geschriebenen Sprache anhand normativer, präskriptiver Grammatiken oder hegemonischer Literaturkorpora sichtbar mache.
Hier soll im Mittelpunkt stehen, dass es einen logischen oder praxeologischen Widerspruch gibt zwischen diesen präskriptiven Praktiken der Formenumgestaltung, die sich deklarativ in den unterschiedlichen Imagos von jezik* – Bosnisch, Kroatisch, Serbisch, Montenegrinisch, Bosniakisch/Boşnakça – ausdrückt, und zwischen der Meta-Praxis, über jezik* zu sprechen, dabei aber die Nennung der Imago zu vermeiden oder durch den Substituenten „naš“ zu umgehen, weil man sich versteht, verstehen will, und vor allem eines: weil man keinen Konflikt und keine Unannehmlichkeiten haben will.

Kriegerische Umbenennungsaktionen
Ich erinnere mich lebhaft an hitzige Gespräche mit jezik*-Sprecherinnen in Sarajevo, Banja Luka und Berlin der frühen 2000er Jahre, die argumentierten, man könne jezik* schon aus historischen Gründen – durch das Fehlen großer, konstituierender, Logos gebender, normierender Männergestalten wie Vuk Stefanović Karadžić oder Ljudevit Gaj, die eine vergleichbare Rolle wie Martin Luther oder die Gebrüder Grimm für die deutsche Sprache spielten – nicht als bosnische Sprache bezeichnen. Es sei für Bosnierinnen und Bosniakinnen eben einfach hinzunehmen, dass ihre Sprache als Serbokroatisch, Serbisch oder Kroatisch zu bezeichnen ist; es gäbe ja gar keine bosnische Literaturtradition; selbst die großen (und in den allermeisten Fällen männlichen) Schriftsteller Bosniens hätten ihre Sprache als Serbisch, Kroatisch oder Serbokroatisch bezeichnet und darin kein Problem gesehen; und sprachen nicht auch die Österreicherinnen, Schweizerinnen und ein paar Belgierinnen Deutsch und fänden sich ohne großes Murren damit ab? Die Brasilianerinnen, die US-Amerikanerinnen, die…? — So in etwa die proserbische und prokroatische Straße, wofür sich massenhaft schriftliche Nachweise finden ließen.
Ein bosniakischer Kommilitone im Studium jenes Nebenfaches, das sich damals an der Humboldt-Universität zu Berlin noch „Serbistik-Kroatistik“ bzw. „Serbokroatistik/-tisch“ nannte, um sich alsbald in fortlaufender Metamorphose mehrfach umzunennen, reagierte beleidigt auf solche Meinungen, auch wenn sie von einem pensionierten deutschen Kommilitonen stammten, der wahrlich niemandem als serbischer oder kroatischer Nationalist galt. War es nicht gemein, den Bosniern eine eigene Sprache zu versagen? Auf der bosnischen Straße läuft man früher oder später über den Gemeinplatz von inat, des bosnischen Trotzes, und so entschieden sich die Bosnier, sich nicht mehr nach den alten Lehrsätzen zu richten. Sie druckten ihre eigenen Grammatiken, warfen ein paar Turzismen ins Vokabular, fügten hie und da ein irgendwie als „muslimisch“ geltendes ‚h‘ ein und nannten ihre Sprache Bosnisch. Und so wurde aus dem Studienfach „Serbistik-Kroatistik“ vorübergehend „Bosnisch/Kroatisch/Serbisch“, bis auch die Montenegriner trotzig wurden, und sich das Fach fortan „Bosnisch/Kroatisch/Montenegrinisch/Serbisch“ nannte.
Bosnische Sprache war mir persönlich stets als sinnvollste Bezeichnung erschienen, im Gegensatz zum ethnisierenden Kroatisch und Serbisch. Es war mir völlig verständlich, dass keine muslimische Einwohnerin Sarajevos ihre Sprache freiwillig als Serbisch bezeichnet hätte, nachdem sie im Namen der serbischen Nation jahrelang belagert, beschossen und granatiert worden war. Durch den metamorphen Stand der Dinge hatten sowohl Serbisch als auch Kroatisch, genau wie das anachronistisch gewordene Serbokroatisch, ihre denkbare Kapazität einer nicht-ethnischen Überbegrifflichkeit für eine polyzentrische Sprache – vergleichbar den Bezeichnungen Deutsch, Portugiesisch oder Englisch – verloren.
Serbokroatisch, einst offiziell und über einige Umwege von den Nachfolgern Karadžić’s und Gaj’s beschlossen, war in einem offiziellen Akt wieder abgeschafft worden, und Kroatisch und Serbisch standen synonym für die ethnonationalen Endonyme und Eponyme Kroatisch und Serbisch als Ethnonation. Serbisch, um bei nur einem Beispiel zu bleiben, war sehr direkt zu einem Schlachtruf geworden: Serbisch, besonders aus Sicht der bosnischen Muslime (die im Laufe des Krieges zu Bosniaken wurden), war damit zu einer „Tätersprache“ geworden; nichts verdeutlicht das besser als die gewaltsamen Umbenennungen von Ortsnamen im Krieg, die teilweise noch einige Zeit danach anhielten. Foča wurde zu Srbinje, Bosanski Brod zu Srpski Brod, Danji Vakuf zu Srbobran, die serbisch kontrollierten Teile Sarajevos zu Srpsko Sarajevo, und so weiter.
Dagegen behaupten heute nicht einmal bosniakische Nationalisten die Existenz einer bosnischen Nation: unter den offiziellen konstitutiven Völkern Bosnien-Herzegowinas, die sich wiederum auf keine Konstitution berufen konnten, und ebensowenig auf das sich als Substitut anbietende Abkommen von Dayton, das in keine der drei Sprach-Imagos übersetzt wurde und in offizieller Gestalt nur auf Englisch fort existierte, fanden sich Bosniakinnen, Kroatinnen und Serbinnen – nicht aber Bosnierinnen (Fußnote: da der Dayton-Text auf Englisch geschrieben ist und in ihm die Rede von Bosnian Serbs, Bosnian Croats und Bosniaks ist, besteht kein Grund, diese männlich zu setzen, und so sei hier fortwährend und ebenso willkürlich von Bosniakinnen, Serbinnen und Kroatinnen die Rede). Auf den ersten Blick besteht die einzige Inkonsistenz und das einzige Gegenargument für Bosnisch darin, dass die bosnische Sprache (bosanski jezik) wiederum von bosniakischen Nationalisten für sich beansprucht wird – nicht aber die bosniakische Sprache (bošnjački jezik) – was freilich dem Gebot der Unteilbarkeit Bosniens geschuldet ist. Bosnisch soll nämlich für alle sprechbar sein, so das bosniakische Kalkül, und damit gleichzeitig das Serbische und Kroatische in Bosnien marginalisieren, was bekanntlich nicht funktioniert.
Die türkische Sonder-Imago ‚Boşnakça‘
Eine außerhalb des slawischen Sprachraums wenig beachtete Eigenheit stellt die türkische Bezeichnung Boşnakça dar, die mit Bosniakisch(-e Sprache) zu übersetzen wäre. Boşnakça ist jedoch die gängige und offizielle türkische Bezeichnung für Bosnisch, wobei zu betonen ist, dass es sich im Türkischen keineswegs um eine absonderliche Variante der „korrekteren“, im deutschsprachigen linguistischen Feld inzwischen weitgehend als redlich geltenden Bezeichnung Bosnisch handelt, welches, wie ich den hin und wieder auftauchenden Diskussionen zwischen turkophonen bosniakischen Nationalistinnen und turkophonen nicht-bosniakischen Türkinnen entnehmen kann, als Bosnaca zu bezeichnen wäre; Bosnaca ist jedoch nicht gebräuchlich in der türkischen Sprache – um nicht zu sagen: es existiert nicht, denn mit ein, zwei Suffixen ist im Türkischen sehr schnell ein neues Wort geschöpft – und darüber hinaus besteht Unklarheit über die Genese des Begriffes Boşnakça in der türkischen Sprache, wozu ich hier nur einige Vorschläge machen will.

Die türkische, in der Türkei jedoch durch die strauchelnde patriarchale Ordnung zensierte Wikipedia gibt nicht besonders ausführlich Auskunft über das Wort:
„Boşnakça (Boşnakça: Bosanski jezik, Bosanski), çoğunluğu Bosna-Hersek’te yaşayan Boşnakların konuştuğu dil.“
Der Artikel erklärt zwar die große Ähnlichkeit der „bosniakischen Sprache“ zur kroatischen und serbischen Sprache, die sich zunehmend verringere, ordnet sie in der Klassifizerung gar der Serbokroatischen Imago unter, und legitimiert die Bezeichnung „Bosanski Jezik“ auf jezik* durch ein historisches Dokument, nämlich den Buchdeckel einer 1890 in Sarajevo gedruckten Grammatik der bosnischen Imago von jezik*; der Artikel lässt jedoch die viel interessantere Frage offen, wie es dazu gekommen ist, dass, ganz im Gegensatz zum Sprachgebrauch in allen Imagos von jezik*, im Deutschen und anderen europäischen Sprachen, ausgerechnet in der türkischen Sprache stets von Bosniakisch, nicht aber von Bosnisch die Rede ist, was als Bosnaca zu bezeichnen wäre. Auch ein Blick auf die arabische Sprache als mögliche Quelle, sofern die arabische Wikipedia eine verlässliche Quelle ist, offenbart keine Erklärung: dort heißt die Sprache al–lughāt al–Bosnawi (لغة بوسنوية). In der benachbarten Sprache Kurdisch ist die Rede von Zimanê bosnî, und auch das Persische als Quellsprache verwendet Zinan Bosnî bzw. Zinan Bosniavî ( بوسنیایی). Ein naheliegender, wenn auch hier nur oberflächlicher Blick in die osmanische Sprache über das Online Wörterbuch kamusiturki.com dagegen nennt jezik*, analog zum modernen Türkisch – Boşnakça (بوشناقجه).
Die letztliche Erklärung für die Genese des Wortes Boşnakça muss ich an dieser Stelle schuldig bleiben, ich vermute aber, dass in die Türkei bzw. ins Osmanische Reich eingewanderte Bosniaken den Begriff selbst mitgebracht haben, oder dass Bosniaken (und analog Bosniakisch) dort auch dann als Endonym und Eponym (Fremdbezeichnung) üblich war, als dies auf dem Balkan nicht der Fall war. Indirekt korreliert im heutigen Sprachgebrauch die Analogie Bosniaken-Bosniakisch mit der in der Türkei weit verbreiteten Vorstellung, Bosnien sei ein „muslimisches Land“, aus dem nur Muslime, Bosniaken, kommen, die folglich Bosniakisch sprächen, wobei damit natürlich nicht geklärt ist, zu welcher Zeit sich Boşnakça etabliert hat.
Die Sprach-Imago ist mit der Konfessionsnation verschränkt
An dieser Stelle ist ein Exkurs zur Imago des „muslimischen Landes“ und des „christlichen Landes“ angezeigt, weil diese Imagination mit größter Wahrscheinlichkeit verantwortlich dafür ist, dass jezik* in der Türkei neben den Imagos Hırvatça und Sırpça in der Imago Boşnakça anzutreffen ist. Die auch anderweitig weit verbreitete Imago, es gäbe „muslimische Länder“ oder „christliche Länder“ – als könne ein sächlich-räumlich-institutionelles, nationalstaatlich, relational, territorial oder wie auch immer vorgestelltes Land, und nicht ein Mensch, ein Glaubensbekenntnis haben, und zwar paradoxerweise ohne eine Theokratie zu sein – verdiente eine eigene, kritische und radikale Auseinandersetzung, und zwar insbesondere hinsichtlich der post-imperialen südosteuropäischen Länder und Anatoliens.
Alle diese Länder, mit Ausnahme des heutigen Albaniens, waren in der frühnationalistischen Phase von Völkermorden, „ethnischen Säuberungen“ und anderen gewaltsamen homogenisierenden Maßnahmen des „demographic engineering“ betroffen, nachdem Männer das Glaubensbekenntnis der bestehenden oder angestrebten Bevölkerungsmehrheit „ihrer Länder“ mit der Verfasstheit „ihres Staates“ identisch gesetzt haben. Dies habe ich in einem Beitrag zu den Genocide Studies anhand eines Ausschnittes meiner Magisterarbeit gezeigt. Deshalb beinhaltet in diesem Kontext die Vorstellung, es könne „muslimische“ oder „christliche“ Länder geben, immer eine Referenz an den Völkermord, wie die Zerstörung Bosniens in den 1990er Jahren, aber auch der Krieg in Kroatien und im Kosovo noch einmal drastisch deutlich gemacht haben. Es versteht sich von selbst, dass die Vorstellung der Identität von „politischer“ Gemeinschaft und Bekenntnisgemeinschaft auch und besonders in West-, Mittel- und Osteuropa, Indien, Pakistan und anderswo zu Antipolitik und in ihrer schlimmsten Konsequenz zu massenhaftem Mord, Pogromen und Genozid geführt haben.
Verzweifelt strampeln die Patriarchen
Andererseits besteht gerade unter Sprachnationalistinnen die Tendenz, die Differenz der „anderen“ Sprache, trotz wechselseitiger Verständlichkeit, auch aufgrund allerlei puristischer Maßnahmen und Arbeit an der Herstellung von Differenz, anzuerkennen. Puristisch hervorgetan haben sich Sprachnationalisten besonders in Kroatien, wo Sprecherinnen von jezik* über den Rundfunk darüber informiert wurden, welche Worte es in Zukunft nicht mehr zu geben hatte, welche Worte als Serbismen und Turzismen zu gelten hatten, und durch welche Kroatismen in Gestalt oft abenteuerlich konstruierter Neologismen oder wieder entdeckter Archaismen sie zu ersetzen wären.
Besonders ausdrücklich betrifft der nicht zu verleugnende morphologische Gestaltwechsel die verschriftete Dimension von Sprache, deren Eigenleben als Literatursprache – nachträglich durch nach Hegemonie strebende Grammatiken kanonisiert – seit jeher als prima causa für die Behauptung ihrer angeblichen Essenz gilt. Kaum jemand, auch nicht in liberalen Kreisen, wird heute in Zagreb oder Belgrad noch ernsthaft diskutieren wollen, ob es Sinn macht, von zwei unterschiedlichen Sprachen auszugehen; eine Kompromisslösung bildet die bereits genannte Lehrmeinung, es handelte sich um eine plurizentrische Sprache mit ihren jeweiligen Gravitationsschwerpunkten in Zagreb, Belgrad, Sarajevo und Podgorica. Doch selbst diese Ansicht ist den meisten Lehrmeinungen zufolge nicht radikal genug, und so habe ich einmal eine betagte deutsche Kroatistin ausrufen hören, der kroatische Bauer würde sich im Grabe drehen angesichts der ketzerischen Behauptung, er spräche die selbe Sprache wie „der Serbe“.
Die verschriftlichte „Anerkennung“ (die nicht mit Würdigung gleichzusetzen ist) von Differenz untermauert schließlich die Eigenheit der als anders behaupteten, eigenen Sprache am glaubwürdigsten durch historische, kulturelle und literarische Verbrämung. Trotzdem ist die Mission der Sprachnationalistinnen eine verzweifelte, da sie sich in einem beständigen Strampeln gefangen sehen, in Zeiten permanent zugänglicher Online Social Networks unaufhörlich Unterschiede konstruieren zu müssen, während sie die eigene Herde davor zu hüten trachten, aus der Hegemonie der jeweils gültigen Grammatik auszubrechen und darüber sezessionistisch zu werden. So bestand und besteht im Zeitraum meiner Forschung in keinerlei Hinsicht „endgültige“ Sicherheit, dass dieser Prozess abgeschlossen ist, und in jüngerer Zeit ist mit der „montenegrinischen Sprache“ eine weitere, „neue“ Sprache hinzugekommen, was die Hegemonen der serbischen Sprache noch immer nicht wahrhaben wollen, bedeutet es doch für sie einen Einflussverlust über die Deutungshoheit alles theoretisch Schreib- und Sagbarens; in anderer Gestalt findet sich freilich dieser Anspruch auf Deutungshoheit im Streben nach Zensur – wodurch an anderer Stelle die Frage der Internetfreiheit zu diskutieren wäre. (Der Text setzt sich nach den Bildbeispielen fort)



So vieles in den künftigen Geschicken des Sprachphänomens jezik* unter den noch frischen und sich voraussichtlich noch sehr viel stärker auswirken werdenden Bedingungen der Digitalisierung ist unklar; man denke nur an die Zukunft des kyrillischen Schriftsystems, das in der „Föderation Bosnien-Herzegowina“ bereits als weitestgehend abgeschafft betrachtet werden kann. Was nützt es, wenn in Lehrbüchern steht, die bosnische Sprache könne auch auf kyrillisch geschrieben werden, wenn niemand der mir bekannten Personen aus der Föderation BiH freiwillig und selbstverständlich kyrillisch schreibt, wenn keine einzige der großen Tages- und Wochenzeitungen auf kyrillisch (oder, wie früher, abwechselnd auf lateinisch und kyrillisch) erscheint, wenn Bücher fast ausnahmslos in lateinischer Schrift gedruckt werden, wenn kyrillische Bücher im Buchregal zunehmend als ärgerliches Lesehindernis gelten, wenn die kyrillische Schrift als serbische Schrift gilt? Oder wenn ein Gemeinderatsmitglied der Sarajevoer Gemeinde Ilidža fordert, die dort verbreiteten arabischen Beschriftungen müssten immer auch durch Aufschriften in „unserer Sprache“ (na našem jeziku) in kyrillischer und lateinischer Schrift ergänzt werden:
„Zakonski propisi su tu jasni i mislim da se to mora dovesti u red da se uz natpise na arapskom jeziku moraju napraviti i natpisi na našem jeziku i ćiriličnim i latiničnim pismom“ (N1 vom 12.3.2018)
Der kyrillischen Schrift ist, zumindest außerhalb der Wirkmächtigkeit der russischen Sprache, russischer Suchmaschinen, Software und neuer Medien, durch das Internet Grenzen gesetzt. Es ist durchaus denkbar, dass sie in Zukunft ganz verschwindet. All diese Beispiele aus dem späten Nationalismus und der frühen Digitalen Revolution aus der „Yugosphere“ (Tim Judah) bzw. dem ehemaligen Jugoslawien – dabei ist Jugoslawien ein ausgesprochen gemiedener Begriff, wie Tanja Petrović in ihrem Buch Yuropa erinnert – liefern ein ausgezeichnetes Veranschaulichungsfeld für alle Fragen der „Metamorphose der Welt“ (Ulrich Beck). Allein deshalb lohnt sich die Auseinandersetzung mit derlei in aller Ausführlichkeit in Slawistikseminaren, in der Fachliteratur und „in Volkes Mund“ besprochenem Geplänkel über Sprache, welches in den meisten anderen, auch plurizentrischen Sprachen wie Deutsch, Portugiesisch, Englisch etc. oder untereinander wechselseitig verständlichen Sprachen wie Dänisch und Norwegisch nicht in vergleichbarer Vehemenz stattzufinden scheint, und was, einmal mit gesundem Menschenverstand betrachtet, bald absurd erscheinen will.
Imamo situaciju: welche Sprache sprechen du und ich?
Aber schon aus praktischen Gründen besteht für mich als Forscher, der seine Ergebnisse zu dokumentieren hat, eine Notwendigkeit darin, zu einer Anwort zu finden, wenn es darum geht, die von mir verwendete Sprache zu benennen. Ich meine damit nicht die Frage, auf welcher Sprache ein bestimmtes Buch geschrieben ist, etwa das Buch mit dem Titel Yuropa. Jugoslovensko nasleđe i politike budućnosti u postjugoslovenskim društvima der Autorin Tanja Petrović. Denn diese Frage wäre zwar vielleicht müßig und abenteuerlich, aber doch zu ermitteln, indem ich mich etwa bei der Autorin erkundige, wie sie ihre Sprache nennen würde und an welchem Standard sie sich orientiert.
Ich meine damit viel mehr die paradoxe Situation, die entsteht, wenn ich versuche, Postskripte meiner Interviews zu erstellen, und in diesen Postskripten vermerken will, auf welcher Sprache das Gespräch stattfand. Manchmal fand ein Gespräch auf zwei unterschiedlichen Sprachen statt, wovon die eine eindeutig als Türkisch zu bezeichnen ist; die andere Sprache, die zum Phänomen jezik* gehört, ist aber aus meiner Sicht keineswegs immer eindeutig zu bezeichnen gewesen. Eine Sprecherin in der Herzegowina hätte ihre Sprache vielleicht als Bosnisch bezeichnet, ein Sprecher im montenegrinischen Sandžak als Montenegrinisch, ein Sprecher in Makedonien als Serbokroatisch, ein Sprecher im serbischen Sandžak als Serbisch, und ein Sprecher in der Türkei auf jeden Fall als Boşnakça/Bosniakisch; aber welche Sprache sprach eigentlich ich, sprachen wir? Habe ich mich eindeutig nach der Entscheidung meiner Gesprächspartnerin oder meines Gesprächspartners zu richten, auch wenn ich unter Umständen, wie es in der Türkei häufig der Fall war, die Sprache jezik* sicherer sprach als mein Gesprächspartner, der für kompliziertere Ausführungen ins Türkische wechselte? Und welche Sprache sprach ich mit meinen serbischen Freunden und meinem makedonischen Freund, wenn wir, wie fast jeden Samstag, zusammen an den Strand nach Şile fuhren, wo wir unentwegt miteinander jezik* sprachen?
Sprache als metamorpher Prozess: der Name als Imago

Ich habe bereits ausgiebig von der biologistischen, metamorphen Metapher der Imago Gebrauch gemacht, ohne diese genauer zu erklären; daneben tauchten bereits die unterschiedlichen Gestalten der Imago in Form ihrer kursiv gehaltenen Nationalsetzungen (Bosnisch, Kroatisch, Serbisch) auf; und schließlich habe ich mit jezik* ein Substitut nicht nur für alle bestehenden Imagos eingeführt, sondern auch als Mittel zur Umschiffung situativer Widersprüche und zur Beschreibung aller Larval- und Nymphenstadien des Geschöpfes jezik*, das prozessual und nicht statisch gedacht werden muss.
Jezik – Sprache – kann mit Fug und Recht mit der kreationistischen Metapher Geschöpf bezeichnet werden, da es als täglicher kreativer Akt des menschlichen Sprechens nur in seiner sich ständig erneuernden Schöpfung fassen lässt; alle Grammatik ist nur deskriptiv. Dem Gebrauch von Metaphern kann man sich ohnehin schwer entziehen. Auch wenn nach wie vor oft geglaubt wird, Kernprägnanz, Randschärfe, Objektivität und die Vermeidung verschleiernder, implizierender Sprache, etwa durch zu vermeidende Verheckungsstrategien (Hedging), seien kennzeichnend für wissenschaftliche Sprache, beweisen die auch dort allgegenwärtigen Metaphern rasch das Gegenteil.
Selbst Schreiben über Metaphern und Metaphernanalyse kommen ohne den Gebruach metaphorischer Sprache nicht aus. Mit großer Selbstverständlichkeit wird über Muttersprachen, Brücken ins wissenschaftliche Feld, über Felder, Habitus oder Wirtschaftswachstum geschrieben und geforscht, ohne sich zwangsläufig mit einer Klärung der Begriffsgeschichte, der Genese des Prozesses und, im Fall sich verändernder Bezeichnungen, mit den Metamorphosen vom Ursprungs- zum Larval- zum Nymphenstadium zur Imago zu beschäftigen. Oft werden dagegen Dogmen erhoben, die etwa Unredlichkeiten behaupten und setzen, so dass etwa ein Begriff wie Serbokroatisch heute als unredlich gelten darf und, wenn überhaupt, nur noch historisch Anerkennung findet. Ausgeblendet und vereinfacht wird dabei jedoch der Gesamtprozess von Sprache und ihre komplexe Situativität.
Die Situativität „unseres“ jezik*-Gebrauchs zwischen Sarajevo und Istanbul
Ich nenne die Sprache, die wir teilen, hier Jezik*, was ich von „unsere Sprache“ (naš jezik) herleite und aus pragmatischen Gründen, aber auch trendbewusst und nicht ganz unbescheiden, durch einen Asterisken verfremde und einfach setze. Der Grund dafür ist, dass meine Gesprächspartner «ihre» Sprache untereinander und in den meisten Sprechsituationen im oben dargestellten Sinne national benennen, ohne dass dies heißen muss, dass sie deswegen während des Gesprächs eine andere Sprache als ihre Gesprächspartner sprächen.
Um dies durch ein Beispiel zu illustrieren: meine serbischen Gastgeber in Istanbul würden ihre untereinander und auch mit mir gesprochene Sprache Serbisch, niemals aber Bosnisch nennen. Ich hingegen würde «meine» Sprache spontan am ehesten als Bosnisch, nicht aber als Serbisch bezeichnen. Da es sich während des Sprechakts zwischen uns aber dennoch um die gleiche Sprache handelt (und, meinetwegen, nicht um die selbe), und andere Sprecher der gleichen Sprache sie außerdem als Kroatisch oder Montenegrinisch (und manchmal noch als Serbokroatisch) bezeichnen, ist es überhaupt nicht ohne weiteres möglich, nominal zu bestimmen, welche Sprache wir da eigentlich sprachen. Der Volksmund umschifft das Dilemma der Nationalsetzung als potentielle Kommunikationsbarriere oft, indem die nationale Benennung der Sprache durch naš jezik, oder abgekürzt naš, paraphrasiert wird. Die nationalen und nationalisierenden Bezeichnungen srpski jezik, hrvatski jezik, bosanski jezik und crnogorski jezik werden zum einen dann durch naš jezik ersetzt, wenn den Sprecherinnen nicht klar ist, welcher Nationalität sich die Gesprächspartnerin(nen) zugehörig fühlen, häufiger aber dann, wenn angenommen wird, dass die eigene nationalisierende Bezeichnung der Sprache durch die übrigen Gesprächsteilnehmerin(nen) als Hegemonisierungsversuch missbilligt werden könnte.
Dieser gängigen und weit verbreiteten Praxis zur Konfliktvermeidung und Gesichtswahrung haben normative Grammatiken nichts entgegenzusetzen, so sehr sie auch „purifizieren“, normieren und nervös strampeln mögen.
Muttersprache
Auch das Konzept der Muttersprache wäre an dieser Stelle ebenso stark wie die Konzepte eines Mutterlandes und eines Vaterlandes zu hinterfragen, da die „Muttersprache“ meiner Mutter Jezik* ist, ich jedoch Jezik* am ehesten als meine Adoptivsprache bezeichnen würde, wenn man mich denn zwingen sollte, eine familialisierende Metapher für die Sprache Jezik* zu verwenden. Da Deutsch in meinem Fall dem gleich kommt, was üblicherweise als Muttersprache bezeichnet wird, meiner Mutter Muttersprache aber nicht Deutsch ist, musste mir das Konzept der Muttersprache seit jeher suspekt erscheinen.
Meine Mutter habe ich übrigens – je nach Situation – Jezik* als Bosnisch, Serbokroatisch, Kroatisch oder sogar Jugoslawisch bezeichnen gehört, wobei sie auch auf die Paraphrase naš / naš jezik zurückgreift. Jugoslawisch findet sich meines Wissens in keiner einzigen der Grammatiken der letzten Jahrzehnte (einschließlich der sozialistischen Periode), und der Gedanke an die schiere Möglichkeit einer solchen Begriffsetzung lässt Südslawistinnen jeder Couleur augenblicklich in Wallung geraten; es gilt als unbotmäßiger Tabubruch, auch nur von der Möglichkeit einer jugoslawischen Sprache auszugehen oder das etwa diskutieren zu wollen, da die Klassifizierung von Slowenisch, Bulgarisch und Makedonisch als südslawische Sprachen dadurch adhoc ad absurdum geführt werden würde. Die in der Metaphorik der Himmelsrichtungen formulierte Klassifizierung des Slowenischen, Kroatischen, Kajkavischen, Čakavischen, Štokavischen, des neo-štokavischen Dialektkontinuums, des Bosnischen, des Serbischen, des Makedonischen, des Bulgarischen, des Goranischen und weiterer denkbarer Varianten als „Südslavia“ gehört jedoch zu den wenigen unhinterfragten, sakrosankten Kategorien des Feldes, die umso eifriger behütet und verteidigt werden müssen, da angesichts der oben beschriebenen Zerwürfnisse ach so weniges als gesichert gilt und noch unhinterfragt gewusst werden kann.
Das schreckliche Vergehen, „Jugoslawisch“ doch wägbar zu machen, sei hier doch einmal in den Raum gestellt. Interessanterweise bin ich nämlich dem Begriff Jugoslawisch auf einem türkischen Einwanderungsdokument einer meiner Gesprächspartner in der Türkei begegnet – eines aus Jugoslawien in die Türkei ausgewanderten Muhadžir – und zwar als Yugoslafça. Daneben ist es meine persönliche Beobachtung aus dem ländlichen Bosnien, dass es durchaus weitere Menschen gibt, die diesen Begriff hin und wieder verwendet haben, was aber wahrscheinlich nicht mehr nachvollziehbar und belegbar sein wird. Da die Bezeichnungen Jugoslawisch oder Yugoslafça außerhalb der Redlichkeiten des linguistischen Feldes stehen, dürfte ihnen auch in Zukunft kein weiteres wissenschaftliches Interesse beschieden sein. So werden sie höchstens als Absonderlichkeiten und Skurrilitäten in Fußnoten und digitalisierten Schlagworten auftauchen. Gäbe es nicht das Internet, das niemals nichts vergisst, machte sich die pragmatische Strategie des Silencing daran, sie alsbald zu vergessen, um die Regeln des Feldes zu sichern.
Rückschlüsse zum nicht-präskriptiven Nachdenken über Sprache und die Metaphernanalyse
Eine lange, müßige, nicht zu Ende geführt werden brauchende Diskussion will ich abkürzen, zu Rückschlüssen für die Verwendung von Metaphern kommen, aber auch, erstens, einen pragmatischen Vorschlag formulieren.
Ich verwende ich in meinen Texten also die Bezeichnung Jezik*. Möge der Asterisk [*] jeder Sprecherin der oben genannten Imagos (Bosnisch, Kroatisch, Montenegrinisch, Serbisch, Serbokroatisch, Jugoslawisch, Boşnakça) leuchten und ermöglichen, zu jedem Zeitpunkt im Asterisken [*] einen Platzhalter der eigenen, meist nationalen Imago oder, je nach Geschmack, einer vergangenen Nymphe oder Larve zu erblicken. Mir selber als Sprecher der Sprache, für den das Sprechen der Sprache mit keiner identitären Imagination verknüpft ist, ist damit auch gedient. Schließlich habe ich die praktische, über digitale Tonaufnahmen sowohl qualitativ als auch quantitativ empirisch darstellbare und nachweisliche Erfahrung gemacht, dass der Asterisk im Sprechakt keinerlei oder kaum Rolle spielt, sofern er nicht explizit gemacht wird. Egal, ob ich in Bosnien, in der Herzegowina, in Kroatien, in Serbien, in Montenegro, in beider Sandžak, im Kosovo, in Makedonien oder in der Türkei Gespräche mit Sprecherinnen von Jezik* geführt habe, waren keinerlei Verständigungsprobleme festzustellen, wobei aus meiner Sicht die größten Abweichungen von den mir vertrautetesten Stadtdialekten Sarajevos und Mostars im Sandžak feststellbar waren, aber auch in der Türkei, wo sich die Turzismen am stärksten und teilweise abweichend von den Balkanturzismen konzentrieren, aber auch der Variantenreichtum des Vokabulars und die Regelmäßigkeit der Flektionen nachlassen, bis schließlich oft ins Türkische gewechselt wurde, um „das wesentliche“ zum Ausdruck bringen zu können. In all diesen Gesprächssituationen habe ich, unabhängig vom Zeitpunkt des Spracherwerbs und der Ausprägung der Sprachbeherrschung, die Erfahrung der Gemeinsamkeit und Geteiltheit der Sprache gemacht, deren Bezeichnung zum Zeitpunkt des Sprechens irrelevant ist.
Man mag berechtigterweise einwenden, dass die Bezeichnung Naš, oder das davon abgeleitete und scherzhaft manchmal verwendete Naški, genau wie das oft als herabwürdigend empfundene Dobardanski, eine nicht-ethnisierende Alternative zu Jezik* darstellen würde, und dass der Asterisk eigentlich nur genau das tut, was er vermeiden will: nämlich die Nationalsetzung oder Ethnisierung der Bezeichnung der Sprache. Der Asterisk stellt als Substituend schließlich eine Einladung dar, sich eine der vorhandenen und gerade gängigen Imagos auszuwählen, und je nach Präferenz die Sprache dann doch wieder für sich national/ethnisch zu bezeichnen. Das ist richtig. Ebenso könnte und wird mit großer Wahrscheinlichkeit eingewendet werden, ein Wort mit Asterisk störe den Lesefluss und sei, genau wie der Unterstrich, als zusätzliche Abstraktionsebene abzulehnen und also unbrauchbar. Dagegen würde ich jedoch einwenden, dass es sich bei Jezik* um einen fachsprachlichen Begriff handelt, und dass er als solcher nicht im Lesefluss unauffällig zu sein braucht. Er lädt auffällig dazu ein, über das Phänomen Jezik* nachzudenken, und über die unhinterfragte Übernahme national und ethnisch setzender Kategorien nicht den gewaltsamen Zusammenhang zu vergessen, in dem diese Bezeichnungen entstanden sind. Jezik* will deeskalierend sein, indem, ähnlich wie im Fall der Vermeidung des präskriptiven Geschlechts, die Imago nicht „verboten“ oder abgeschafft wird – wie etwa die Imago Serbokroatisch de facto durch deskriptive, kontrastive und präskriptive Grammatiken und das autoritative Wort der Männer „abgeschafft“ wird. Die Imago ist da, es gibt sie, und es scheint den Menschen ein Bedürfnis zu sein, „ihre Sprache“ in einer Imago zu benennen. Man kann das aber auch tun, ohne anderen Menschen vorzuschreiben, wie sie ihre Sprache zu nennen haben. Eine solche Zuschreibung findet streng genommen ja auch dann statt, wenn mir ein Gesprächspartner sagt, ich spräche gut Serbisch oder Kroatisch, obwohl ich meine jezik* niemals als solche bezeichnen würde. Als unpraktisch und zu vermeiden ist jedoch Bosnisch/Kroatisch/Serbisch/Montenegrinisch als momentan praktizierter Versuch, es allen Recht machen zu wollen.
Hinsichtlich der Lebensläufe, deren Liste der beherrschten Sprachen schnell einmal um zwei, drei zusätzliche Sprachen anschwellen kann, bin ich ein wenig ratlos und möchte keine Empfehlung aussprechen. Es gehört zu den Paradoxa, dass die Vielheit von Jezik* im oben beschriebenen Sinn als redlich gilt; es wird jedoch schnell als unredlich empfunden, diese Vielheit in Kapital schlagen wollender, prestigesteigernder Form explizit zu machen.
Weiterführende Links:
Deklaration zur gemeinsamen Sprache (von 2017)