Ausgangspunkt für diesen Beitrag ist ein kurzer Artikel in Zeitcampus online, nämlich ein Gastbeitrag des Politikwissenschaftlers Carlo Masala. Den sehr empfehlenswerten Artikel sollte man also lesen, bevor man sich meine polemischen Kommentare unterhalb des Zitats durchliest. Mein Ziel ist keine Kritik des Artikels, dem ich in den meisten Punkten zustimme, sofern ich es überhaupt beurteilen kann. Ich will vielmehr einen ergänzenden Vorschlag zur Deutung machen, und ich will betonen, dass ich durchaus andere Politikwissenschaftler kenne, die keineswegs davor zurückschrecken, sich öffentlich zu äußern, zu bloggen oder unorthodox zu publizieren. Das fehlende öffentliche Wirken von Politikwissenschftlern nennt der Autor als einen der Hauptgründe, warum die Politikwissenschaft als Disziplin drohe, in der Bedeutungslosigkeit zu versinken:
Könnte es vielleicht sein, dass große Teile der deutschen Politikwissenschaft eine gesellschaftliche Relevanz sogar bewusst ablehnen? Die Nähe zu politischen Entscheidungsträgern gilt als nicht karriereförderlich. Wer policy papers schreibt, wer als Wissenschaftler bloggt, Kommentare in Zeitungen veröffentlicht, das Gespräch mit Politikern, Militärs oder Ministerialbeamten sucht, wer gar im Fernsehen (igitt!) auftritt, gefährdet seine akademische Laufbahn. Dahinter steht ein höchst problematischer Konstruktionsfehler des akademischen Selbstverständnisses. Denn die Politikwissenschaft beäugt die Öffentlichkeit nur aus dem geschützten Raum der Universität heraus – statt sich als genuiner Teil des politischen Lebens zu begreifen. Wer sich äußert, macht sich angreifbar.
Anschließend also ein paar Gedanken und eine Ergänzung zum Vorschlag.
Ich habe ja den Unterschied zwischen Politikwissenschaft und Soziologie noch nie so richtig verstanden, und ihn deswegen auch mein Nebenfachstudium der Politikwissenschaft hindurch relativ erfolgreich ignoriert. Etwa, indem ich hauptsächlich soziologische „Grand Theories“, „Theorien mittlerer Reichweite“, und halt fast alles von Bourdieu gelesen habe. Das witzige ist ja: das machen Politikwissenschaftler und Soziologen beidermaßen, wobei sie unterschiedlich ticken, und anders auf die Inhaltsverzeichnisse der Bücher blicken mögen. Ich habe wohl immer stärker als Soziologe getickt. Das brachte mit sich, dass ich mir aus dem gemeinsamen Vorlesungsverzeichnis für Soziologinnen und Politikwissenschaftlerinnen am sozialwissenschaftlichen Institut der HU Berlin wann auch immer möglich die soziologischen Veranstaltungen herausgepickt habe.
In meiner davon geprägten, womöglich diffusen Überschreitung der Disziplinengrenzen fällt mir gleich noch eine Theorie mittlerer Reichweite ein, um diese wieder einmal beschworene Krise einer Disziplin (gähn) einzuordnen. Diese Theorie wird in dem Artikel aus irgendeinem – wahrscheinlich politikwissenschaftlichen – Grund nicht genannt. Meinetwegen ordne ich hier auch falsch ein, und für diesen Fall werde ich hoffentlich noch eines besseren belehrt (das hoffe ich wirklich – was aber unwahrscheinlich ist). Ich trau‘ mich halt mal wieder, was dazu zu sagen! Nur, um nicht zu den „echten“ Politikwissenschaftlern zu gehören, die in dem Artikel genannt werden, und die sich besser nicht äußern, nicht bloggen, sich nur verschlüsselte Mails schicken, auf facebook nie was liken, und kein What’s App benutzen. Ich will aber gleich warnend vorausschicken, dass mir diese Theorie ständig einfällt, und dass ich sie deswegen auch ständig äußere, und vielleicht auch ständig damit nerve. Aber nach meinem ständigen Dafürhalten machen die Zustände diese Theorie nun einmal ständig, fortschreitend, und vorerst (vorerst!) unabsehbar relevant und angezeigt.
Also: sollte der Befund richtig sein, dass sich die Politikwissenschaft in ihrem gegenwärtigen Zustand in einer Krise auf Intensivstation mit befürchtetem Endstadium Irrelevanz befindet, dann hat das mit der Krise des Nationalstaats zu tun. Den kann und wird es in Zukunft nämlich so – Betonung: so – nicht mehr geben, und, verdammt, außerdem kann nicht gewusst werden, was aus dem Nationalstaat genau wird. Das steht jetzt so im Raum und ich werde es nicht weiter ausführen, denn dazu müsste ich ständig Ulrich Beck zitieren, und das nervt. Wie und warum hängen die zusammen, die Krise der Politikwissenschaft und die Krise des Nationalstaats? Na ganz einfach weil die Politikwissenschaft als Disziplin in ihrer gegenwärtigen Gestalt – Betonung: in ihrer gegenwärtigen Gestalt – und damit in ihrem gesamten Wahrnehmungsapparat mit nationalstaatlichen Institutionen verwoben und verwachsen ist.
Ja, ich weiß: Thomas von Aquin, der mythische Ahne vieler Politikwissenschaftler, hatte noch keinen Nationalstaat, damals, in seinem misogynen Mittelalter. Und ja: ich habe natürlich meinen Machiavelli ordentlich gelesen und verhausarbeitet (sogar bei Münkler), und der cis-männliche Machiavell hatte ebenso keinen Nationalstaat in seiner italienischen Renaissance. Und trotzdem, denn es geht ja um heute: alles, was nicht national fassbar ist, gilt der hier gemeinten Politikwissenschaft als horror vacui. Nicht national gefasste „Akteure“ sind nahezu undenkbar, weil nicht in die komplexen Theorien reindeutbar. Selbst „transnational“ und „multinational“ bedeuten immer erst einmal national. Sogar an der Klimakatastrophe vergeht sich die Politikwissenschaft national – und fügt wissend und nicht unwahr hinzu, es seien Nationalstaaten gewesen, die sie zu verantworten hätten, jetzt aber bocken und sich weigern. Deswegen müssen diese immerfort als „eigentliche Akteure“ problematisiert werden. Aber nicht allzu radikal.
Völkerrecht und Volkssouveränität, völkerrechtlich legitimierte Souveränitäten, Eingreifgruppen, Kriege, Machtmonopole, Mehrheiten und Minderheiten, Parlamente, Lobbies, Präsidenten, Pipelines, Bildungssysteme, Gesetze, Weisungsbefugnisse, Schutzwalle, Mauern, Besteuerungen und Steuerparadiese – das alles kann jene Politikwissenschaft nur national denken. Der Autor des Artikels schreibt es ja selbst: es geht hier um die deutsche Politikwissenschaft – also eine nationale Politikwissenschaft. Die hier wahrscheinlich gemeinte Politikwissenschaft kann also gar nicht anders, als angesichts der nicht mehr so nationalen Realitäten zu versagen, und sie täte allein deswegen gut daran, sich ihrer soziologischen Fußnotentiefe zu besinnen, um eine ganz andere zu werden.
Was ist Politik? Was ist denn das Politische? Wer denkt da nicht zuerst an Bundesrepubliken, Föderationen, konstitutionelle Monarchien, Volksrepubliken? Wer denkt schon zuallererst an Inter-esse, normativen Pluralismus, die Polis oder Freiheit? Deswegen muss die Politikwissenschaft vielleicht vorher irrelevant werden – in ihrer hier gemeinten Gestalt. Und das ist auch gut so. Ach so: und Hannah Arendt lesen bitte nicht vergessen. Auch wenn’s nervt.
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