[Politik] Expertise: Nichtstun als eigentliches Handeln

Dieser Beitrag ist eine kurze polemische Replik auf einen Artikel im Handelsblatt vom 25.7.2016, in dem sich sogenannte „Experten“ zu der Frage äußern, wie sich Deutschland oder Europa der Entwicklung in der Türkei gegenüber verhalten können und (nicht) sollten. Es macht also Sinn, sich vorher diesen Artikel durchzulesen. Im Großen und Ganzen sind die Befunde und vorgeschlagenen Handlungsoptionen des besagten Artikels geleitet von traditionellen Sicherheitskonzepten und sprechen sich für eine sogenannte „Realpolitik“ im Umgang mit der Türkei aus. Für alle, die nicht realpolitisch ticken: Realpolitik ist ein ausdrücklich nicht werteorientierter Ansatz, der häufig der Alternativlosigkeit relativ unmenschlicher Verhaltensweisen das Wort redet, wodurch sich zum Beispiel außenpolitisch begründen lässt, warum Regime wie Chile unter Pinochet oder die Feudalherrschaft in Saudi-Arabien unterstützt werden dürfen: es darf keinen Sozialismus auf amerikanischem Boden geben; die Energiequellen am Golf müssen zugänglich bleiben. In realpolitischen, traditionellen Sicherheitskonzepten, die sich immer an der Sicherheit des Nationalstaats orientieren, klingt alles pragmatisch und rational: als könnte man erst durch nichts tun eigentlich etwas tun, oder auch durch weitermachen-wie-bisher. Beobachtet man außenpolitisch, wie ein Wagen gegen die Wand gefahren wird, rät das pragmatische, traditionelle Sicherheitskonzept dazu, den Wagen gegen die Wand fahren zu lassen – sofern es sich um anderer Leute Wagen handelt. Um es deutlicher zu fassen: ob durch das Durchsetzen sogenannter realpolitischer Ziele die für den Erhalt einer (wie auch immer gearteten) Demokratie unbedingt notwendigen Institutionen wie Rechtsstaatlichkeit, freie Meinungsäußerung/Pressefreiheit etc. vor die Hunde gehen, wird hingenommen oder sogar aktiv befördert. Solange es keinen Sozialismus in Amerika gibt, die Energieversorgung gewährleistet ist. Weil sogenannte Realpolitik im Sinne der traditionellen Sicherheit aber immer am Nationalstaat orientiert ist – und darauf bezieht sich auch die Hauptkritik des alternativen Konzepts der Human Security – stellen solche „Sicherheitskonzepte“ in einer gar nicht so ausschließlich nationalstaatlichen Welt aber meistens noch viel größere Sicherheitsprobleme her.

Jetzt aber mit ein paar schnippischen Wenn-Dann-Halbsätzen zu dem Handelsblatt – Artikel.

Wenn diese „Experten“ schon dabei sind, ihre Expertisen der „umsichtigen“ Zusammenarbeit mit der Türkei zu formulieren, so denke ich mir, dann ist das freilich erst einmal völlig kohärent, und wem es um Moral bestellt ist: moralisch bewegt sich ein Regime wie das des türkischen Präsidenten auf der selben unterirdischen Ebene, wie die EU-Staaten. Damit kein falscher Eindruck entsteht: nach innen trifft das keineswegs zu. Nach innen sind die EU-Staaten – je nach Restbestand – pluralistische Demokratien, aber nach außen können sie dafür richtige Arschlöcher sein, die Waffen überall dorthin liefern, wo gezahlt wird, bzw. Wagen gegen Wände rasen lassen, wo gegen Wände rasende Wagen gesehen werden. Harald Welzer, der sich am Ende seines sehr zu empfehlenden Buches Klimakriege: Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird Gedanken zu genau diesem Problem und den globalen Herausforderungen an immer noch realpolitisch-nationalstaatlich verfasste Regime macht (und außerdem Handlungsoptionen aufzeigt – hier ein paar Links zu Rezensionen von Welzers Klimakriegen), benutzt selbstverständlich das Wort „Arschlöcher“ nicht, und formuliert das so:

Eine solche Strategie scheint auch deshalb elegant, weil sie keine moralischen Probleme aufwirft – denn hier handelt ja mit dem Nationalstaat kein individueller, sondern ein repräsentationaler Akteur, und in Handlungszusammenhängen zwischenstaatlicher Natur sind individuelle Verhaltenskategorien wie Selbstsucht, Rücksichtslosigkiet, Indolenz irrelevant. Jeder Staat kann als Akteur ein Schwein sein, ohne dass dies an seiner Verhandlungsmacht im internationalen Verflechtungszusammenhang auch nur das Geringste ändern würde.

Harald Welzer: Klimakriege

Wer es wagt, das Primat der einzig rationalen, traditionellen, realpolitischen und alternativlosen Sicherheit in Frage zu stellen, muss sich das alte und immer wieder vorgetragene Lied über die Deplaziertheit der Kategorie Moral anhören: Moral sei etwas für die Geisteswissenschaften, die Philosophen, die Ethiker, die Spirituellen und die Religiösen – aber nichts für die Macher, die sich in der alternativlosen Realität um die Energieversicherung, die Arbeitsplätze, die Milchpreise zu kümmern hätten. Dieser Reflex, der jede Kritik an traditionellen Sicherheitskonzepten zu einer moralistischen Flennerei degradiert, ist auch ein Hauptgrund, warum bestimmte Fehler nicht gesehen und korrigiert werden können: wer nur über die Sicherheit der Energieversorgung nachdenkt, neigt dazu, nicht über die vielleicht weniger unmittelbar sichtbaren Unsicherheiten nachzudenken, die davon ausgehen. Wie Kritiker rechtzeitig vorausgesehen haben, HAT die ersatzlose Zerstörung des Irak noch größere Unsicherheiten geschaffen. Wer nur über die Erhaltung von Arbeitsplätzen nachdenkt, neigt dazu, die umweltpolitischen Folgen zu übersehen, die von einer Subventionierung des Kohlebergbaus oder der Nicht-Schließung einer Waffenfabrik ausgehen. Wer sich nur um den Milchpreis sorgt, denkt nicht viel über den Zusammenhang zwischen den vielen Rinderfürzen und dem Klimawandel nach.

Eine Gesellschaft, die ihren Wagen autokratisch gegen die Wand rast, hat nach dem Unfall vielleicht sogar eher die Chance, sich von einem beschrittenen Irrweg zu verabschieden. Zumindest theoretisch, denn auf autokratischen Wandfahrten wird nicht nur der Führer des Wagens moralisch hoch aufgeladen, sondern über den Jubelkult der Anhänger diese auch mitgenommen. Dementsprechend kann der gemeinsamen Trunkenheit eine schmerzhafte Katerstimmung folgen. Wird in einem Nationalstaat der Nationalstaat mit einer Person gleichgesetzt, die sich zudem moralisch legitimiert und legitimiert wird, stimmt Welzers Aussage nicht mehr ganz: hier kann ein Staat zum Schurkenstaat erklärt werden, was Welzer zwar einräumt, aber als absurd bezeichnet. Besäße die Plebs keine funktionierenden Selbstschutzmechanismen, wie ganz am Ende noch kurz dargestellt, bestünde nach einer Wandfahrt die Möglichkeit, eigene Fehler immerhin zu erkennen.

Eine repräsentationale Demokratie der komplexen Strukturen tut sich schwer:

Da kollektive Akteure aber keinen Zurechnungen moralischer Art unterliegen, weil hier lediglich Repräsentanten von Staaten, Institutionen, Verbänden und Unternehmen Handlungsgefüge gestalten, die sich von ihren Handlungen jederzeit subjektiv distanzieren können, tritt Amoralität in der internationalen Politik kategorial gar nicht in Erscheinung (…) Solange man es in Handlungszusammenhängen nicht mit persönlichen Zurechnungen und Zuschreibungen zu tun hat, hat Moral keinerlei Handlungsrelevanz. Deshalb können sich die Mitglieder von Gesellschaften auch dann als moralisch handelnde Personen verstehen, wenn das Gemeinwesen, das sie bilden, sich amoralisch verhält.

Harald Welzer: Klimakriege

Waffenlieferungen an ein Regime, das nach innen alles so macht, wie man es zu Hause niemals akzeptieren würde, können realpolitisch sehr sinnvoll sein, wenn dadurch die Energieversorgung etc. sicher gestellt wird, und Kritik daran kann über den Verruf der Moralität belächelt werden, obwohl vielleicht sehr viel mehr als individuelle Gewissensrede hinter der Kritik steckt.

Wenn diese „Experten“ überdies davor warnen, die Türkei könnte sich durch infantile, emotionale Kritik am Regime „noch stärker polarisieren“, frage ich mich zuerst: wohin will sich die Türkei denn noch entzwei (entdrei, entvier,…) polarisieren? Dahin, wo sich Militärangehörige nicht nur dazu erdreisten, Hunderte von Zivilisten zu erschießen, wo Putschisten nicht nur der Kopf abgeschnitten wird, oder Amnesty International über Vergewaltigungen und Folter im Zuchthaus berichtet, sondern…?

Meine Frage stellt sich mir auch deshalb, weil ich bereits letztes Jahr die türkische Gesellschaft als eine zum Bersten polarisierte Gesellschaft erlebt habe — zumindest die Ausschnitte der Gesellschaft, die sich mir offenbart haben. In einem der Interviews, die ich geführt habe, wurde das an ganz alltäglichen Beispielen unter großer Sorge beschrieben: im Fastenmonat sei es jetzt normal, dass Fastende nicht mit Nicht-Fastenden sprächen (und umgekehrt), weil man für einander nur Verachtung übrig habe. Die Experten, so drängt sich mir auf, haben vielleicht nicht ganz durchdrungen, dass Polarisierung zum Geschäftsmodell des Regimes gehört, und dass sie im Inneren über mediale Hetze und durch Gewalt gegen Abweichler der Norm aktiv vorangepeitscht wird. Deswegen kann auch nicht sehr effektiv von außen polarisiert werden – auch wenn richtig ist, dass Sprechakte von außen (wie die Deutsche Bundestagsresolution zum Armeniergenozid) zur weiteren Polarisierung instrumentalisiert werden können.

Wenn Experten außerdem davor warnen, dass man wegen der Flüchtlinge, oder generell wegen der „Risiken und Bedrohungen“ aus dem Raum südlich der Türkei schauen müsse, dass man da keine Türen zuschlägt, um „mit [der Türkei] weiter eng zusammen zu arbeiten.“ (Noch ein wenn: wenn man schon über Flüchtende in Wellen-, Flut- und Hereinbrech-Metaphern und als Bedrohung sprechen will) – dann sollten sich diese Experten vielleicht vorher einmal kurz überlegen, wer letztes Jahr die Tür zur Balkanroute aufgemacht hat – aus reiner, herzlicher Menschlichkeit, und ganz gewiss mitnichten aus innenpolitischem und transnationalem, populistischem Kalkül! Oder über wessen Waffenlieferungen an eine jener Bedrohungen und Fluchtursachen vom verfolgten Journalisten Can Dündar in der türkischen Tageszeitung Cumhuriyet berichtet worden ist (und nicht nur von ihm). Bestimmt ist Can Dündar aber kein glaubwürdiger Experte. Sonst wäre es wirklich erstaunlich, dass die Experten die Türkei „als äußert wichtiger Partner im Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS)“ wähnen, was aber andererseits einen verbreiteten Glauben an die „Kehrtwende“ des Regimes im Umgang mit der Terrormiliz wiederspiegelt. Zu Can Dündars Verbrechen journalistischer Kritik an der Unterstützung des Regimes für eine Terrormiliz sei noch dazu gesagt, dass er wegen der Veröffentlichung von Staatsgeheimnissen verurteilt worden war, womit der Kläger die Richtigkeit Dündar’s investigativer Berichte bestätigt hatte.

Huch, ist das alles vielleicht in „erratischen Momenten“ passiert?

Ganz gewiss wird es auch in Zukunft, selbst in den „erratischen Momenten“ der ansonsten trotzdem noch „partiell kalkulierbaren“ Außenpolitik der Türkei, nie, nie, NIE! dazu kommen, dass „der am längeren Hebel“ in irgendeiner Weise, gar aus populistischen, polarisierenden Gründen, die EU dazu bringen wird, an ihren Außengrenzen auf Menschen zu schießen. Wie gesagt: moralisch gesehen nimmt sich das von „im Mittelmeer ersaufen lassen“ nicht viel. Oder nichts. Die Befehlsketten sind im ersten Fall gewissermaßen abgekürzt, fast möchte man sagen: auch transparenter. Man darf sich im Grunde noch bedanken, dass einem der Spiegel vorgehalten wird.

Aber was soll die Aufregung: dieses „Expertenwissen“ ist insofern sowieso irrelevant, weil von außen ohnehin kaum Einflussmöglichkeiten bestehen. Schreiben die Experten ja selbst. Das Regime des türkischen Präsidenten ist in erster Linie ein in der Türkei selbst geschaffenes Riesenproblem, das von sich selbst immer wieder sagt: ich bin demokratisch legitimiert; da ist eine Figuration am Werk, der eine Androhung von irgendwas mit NATO genauso willkommen oder wurscht ist, wie keine Androhung von irgendwas mit NATO. Das ist so ähnlich wie mit Slobodan Milosevic damals: da konnte auch nichts gemacht werden, und es war und ist in erster Linie ein jugoslawisches Problem (in dem Fall ist Jugoslawien halt nicht mehr existent).

Das faszinierende an „plebiszitären Cäsaren“, wie Milan Milosevic in seinem Buch Die Parteienlandschaft Serbiens eine durch Volkeshand eingesetzte und beklatschte Autokratenherrschaft klassifiziert und wie es ohne weiteres auch auf den Fall des türkischen Präsidenten übertragbar ist, ist, dass noch Jahre nach dem ruhmlosen Ende der Volkstribunen geglaubt werden kann (und oft wird), alle Probleme seien von bösen Außenmächten gekommen. Hätten die bösen Außenmächte ihre Schlangen nicht geschickt, wäre das nie erreichte Gute und Schöne, das mit wachsendem Abstand vom Idealzustand immer deutlicher in die Vergangenheit projiziert wird, auch nie zerstört worden. Das Denken in und sich identifizieren mit nationalen Containern macht es möglich, dass während der größten Machtentfaltung des polarisierenden plebiszitären Cäsaren kaum von außen auf den Gang der Polarisierung eingewirkt werden kann, während gleichzeitig und zeitversetzt im Inneren fest daran geglaubt wird, dass die Polarisierung von Außen gekommen ist. Experten werden sich dann zwar getäuscht haben – aber an sie wird sich auch nicht weiter erinnert werden, was es wahrscheinlicher macht, dass ähnliche Expertisen immer wieder formuliert werden (auch der Handelsblatt Artikel beinhaltet einen Expertenhinweis auf die griechische Junta und vergangene Realpolitiken).

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