Heute begeht Bosnien-Herzegowina den „Tag der Staatlichkeit“ (Dan Državnosti). Genauer gesagt, ein Teil Bosnien-Herzegowinas. Denn Bosnien-Herzegowina, um es vorweg zu nehmen, ist ein sehr kleines Land mit einer sehr komplizierten Staatlichkeit, die weit und breit ihres Gleichen sucht: Bosnien-Herzegowina ist zum einen ein Gesamtstaat, der aus zwei Entitäten besteht, wovon sich die eine als Republik bezeichnet, und die andere als Föderation. Die sogenannte Republik ist, wie ihr Name Republika Srpska schon sagt, serbisch (orthodox) dominiert. Die sogenannte muslimisch-kroatische Föderation wiederum besteht aus zehn Kantonen. Fünf Kantone gelten als mehrheitlich bosniakisch (muslimisch), drei als mehrheitlich kroatisch (katholisch), und zwei als binational bosniakisch und kroatisch. Daneben gibt es, als «Kondominium», den sogenannten Distrikt Brčko, der offiziell von beiden Entitäten verwaltet wird, sich de facto aber selbst verwaltet, und gewissermaßen den nördlichen Hinterhof des Gesamtstaates darstellt.
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Eine Verfassung besitzt der Gesamtstaat nicht. Als Ersatz für die Verfassung und wichtigstes rechtliches Dokument gilt das Dayton-Abkommen von 1995, das nie in eine der drei offiziellen Landessprachen Bosnisch-Kroatisch-Serbisch übersetzt worden ist.[1] Mit dem englischsprachigen Vertrag, benannt nach der nordamerikanischen Stadt Dayton (Ohio), wurde der dreieinhalbjährige Krieg von 1992 bis 1995 beendet, indem ihn die Vertreter der drei miteinander Krieg führenden, konstitutiven Völker (der Bevölkerungsstärke nach also der Bosniaken, Serben und Kroaten), unterzeichnet haben. Einer der drei Unterzeichner, der ehemalige serbische Präsident Slobodan Milošević, wurde als weltweit erstes noch amtierende Staatsoberhaupt wegen Völkermords und anderer schwerer Verbrechen angeklagt und sodann von seinem später ermordeten Amtskollegen an das Internationale Kriegsverbrechertribunul in Den Haag ausgeliefert, wo er 2006 schließlich in Schande starb. Gegen den zweiten Unterzeichner, den ehemaligen kroatischen Präsidenten Franjo Tuđman, wurden zwar ebenso Ermittlungen aufgenommen, sein früher Tod 1999 verhinderte jedoch eine weitere Strafverfolgung und Verurteilung. Der dritte inzwischen verstorbene Unterzeichner, der bosnisch-herzegowinische Präsident Alija Izetbegović, wird von einem beträchtlichen Teil der muslimischen Bevölkerung Bosnien-Herzegowinas sowie internationalen Politikern geschätzt, obwohl auch gegen ihn immer wieder Vorwürfe laut geworden sind, Kriegsverbrecher geschützt zu haben, darunter aus dem Ausland gekommene Mujahiddin.[2]
Festzustellen bleibt, dass der heutige Staat Bosnien-Herzegowina mitsamt seiner Institutionen eher den Ausgang des Krieges als die Gründung eines auf Kompromissfindung ausgerichteten, politischen Gemeinwesens spiegelt. Die Institutionenvielfalt des Landes, in dem mit gerade einmal 3,7 Millionen Einwohnern nur wenig mehr Menschen wohnen als in Berlin, ist atemberaubend: so verfügt neben der Entitäten- und Staatsebene auch jeder der zehn Kantone über eigene Ministerien. Nicht vergessen werden sollten die direkten Oper des Krieges, dem insgesamt weit über 100,000 Menschen zum Opfer fielen, und der über 2 Millionen Menschen in die Flucht schlug. Viele von ihnen sind dauerhaft in anderen Ländern geblieben. Aufgrund der stagnierenden wirtschaftlichen Entwicklung (sowie aller weiterer systemimmanenten Probleme) hält außerdem die Abwanderung aus Bosnien-Herzegowina konstant an. Einen Eindruck davon gewinnen kann man auf der Facebook-Seite «Odliv Mozgova» (Braindrain), einer geschlossenen Gruppe von über 17,000 Mitgliedern, wo die Zustände nicht ganz ohne Ironie beim Namen genannt werden. Junge AkademikerInnen beraten sich dort gegenseitig über Stipendien-, Studien- und Jobmöglichkeiten im Ausland, was man ihnen kaum verdenken kann. Zwanzig Jahre nach Dayton begeht Bosnien-Herzegowina also einen sehr ernüchternden «Tag der Staatlichkeit».
Fußnoten
[1] In der Republika Srpska, wo ein großer Teil der serbischen Bevölkerung einen Anschluss an Serbien oder die Loslösung von Bosnien-Herzegowina befürwortet, wird der Tag der Staatlichkeit weitestgehend ignoriert. Auch viele Kroaten nehmen ihn eher gleichgültig zur Kenntnis. Vgl. http://www.6yka.com/novost/45279/buka-analiza-ustav-bih-i-nakon-dvije-decenije-samo-na-engleskom-jeziku
[2] In einer schon älteren Gesamtschau werden die unterschiedlichen Rollen der drei Männer differenziert gegenübergestellt, auch wenn es inzwischen neuere Biographien gibt. Vgl. Matvejević, Predrag/Stevanović, Vidosav/Dizdarević, Zlatko, 2001. Gospodari rata i mira (drugo dopunjeno izdanje). Feral Tribune: Split.