[Lied] Yolcu: Reisender von Neşet Ertaş

Das Lied Yolcu von Neşet Ertaş bedeutet ‚Reisende‘ oder ‚Reisender‘, was sich über Suffigierung mit dem sogenannten Berufsbildungssuffix –cu aus Yol (Weg) ergibt. Deutschsprecherinnen mag das an die deutsche Wortbildung über Komposita erinnern — aber die türkische Sprache ist von einer grundsätzlich anderen Logik strukturiert und bildet Wörter in erster Linie über Suffigierung: darunter wird das Anhängen von Nachsilben (Suffixen) verstanden. Darüber hinaus hat Yolcu auch kein grammatisches Geschlecht, weshalb es sowohl als männlicher, weibliche oder unbestimmte (queere?) Reisende:r übersetzt werden kann. An dieser Stelle sollte hinzugefügt werden, dass die türkische Sprache überhaupt kein grammatisches Geschlecht kennt: Sogar nicht-arabische, nicht-persische und nicht-westliche Vornamen — wie zum Beispiel Özgür (frei), Yağmur (Regen) oder Yeter (Es reicht) — sind omnisex. Während der Mond einmal als romanische Frau (la luna, la lune, a lua), ein andermal dagegen als germanischer oder slawischer Kerl (der Mond, [taj] mjesec) daherkommt, scheint Mond im Türkischen universal als ay (Vollmond: dolunay) und ergänzt männliche wie weibliche Namen (Ayhan, Gülay, Ayten, Aynur, usw.). Die grammatische Geschlechtslosigkeit geht aber noch viel weiter als etwa im rudimentären Englischen, wo es immerhin weiter die geschlechtsspezifischen Pronomina He, She, It gibt: auch sie fehlen im Türkischen. Meine erste Türkischlehrerin in Berlin hat uns in einer der ersten Stunden gesagt: „Wir diskriminieren nicht“. Aus diesem Grund könnten die Diskussionen im deutschsprachigen Raum über das generische Maskulinum und die Annahme, dieses sei für den strukturierenden Sexismus in der Gesellschaft verantwortlich — und infolgedessen also auch durch morphologische Beseitigung bekämpfbar oder abschaffbar — noch einmal in einem ganz anderen Licht erscheinen. Wenn man es denn nicht immer gleich ganz genau wüsste…

Für mich als nicht-binär denken müssenden Menschen, der sich in Binaritäten und binären Identitäten schon sehr viel länger als mit dem Aufkommen des längst verflachten, seinerseits (ihrerseits?) identitär gewordenen öffentlichen Diskurses über Nicht-Binarität und Diversität unwohl, unpassend oder auch verquer, queer oder ters fühlen musste, ist Neşet Ertaşs Lied Yolcu extrem bedeutungsvoll und wichtig. Es wurde mir von Istanbuler Freunden vermittelt, in einer der vielen langen Youtube-Sessions. Es spricht mich in seiner Schönheit ganz direkt an: sowohl mit allen einzelnen Saitenklängen der Saz oder Bağlama, als auch mit dem zutiefst spirituellen, aber gleichzeitig einfachen Text.

Wer sich mit Spiritualität beschäftigt, die sich nicht um religiöse Korsette scheren kann — die am Ende immer transzendiert werden müssen — wird eine zentrale Vorstellung kennen: vorgegebene Denkschablonen, aber auch Wege und Traditionen können und müssen sogar aufgesprengt werden, um zu einem Zustand zu gelangen, der entweder als Ganzheit, Einheit, Leerheit oder anders beschrieben wird. In buddhistischen Schriften, die ohne Gott auskommen und sich gegen die Vorstellung einer identitären Religionszugehörigkeit aussprechen, ist der Begriff der Leerheit zentral. Verwendet wird die Metapher des Fahrzeugs oder Vehikels: das von anderen Menschen bekannte und festgehaltene, verschriftlichte Wissen auf weit über 80.000 beschriebenen, unterschiedlichen Wegen zur Erleuchtung, kann genutzt werden. Dennoch muss es abgestoßen werden — und genau diese Sackgasse des Festhaltens wurde in vielen Mainstreams der abrahamitischen Religionen nicht erkannt. Ich schreibe hier bewusst von Mainstreams, weil des daneben in allen abrahimitischen Religionen auch extrem wichtige Sidestreams gibt, zu denen etwa die Mystik Simone Weills oder Meister Eckhart in der christlichen Mystik, die Kabbala in der jüdischen Mystik, die verschiedenen sufischen Zweige in der islamischen Mystik, oder auch das Alevitentum gehören, mit dem Neşet Ertaş verbunden ist.

Zu diesen abzustreifenden Vorstellungen — ich nenne sie einmal: die „Aufzusprengenden“ — gehört auch die Vorstellung eines personifizierten Gottes, der in den noch immer verbreiteten abrahamitischen Traditionen männlich und väterisch vorgestellt und durch Männerfiguren vermittelt und interpretiert wird. Dazu gehört auch die Zwangsvorstellung geschlechtlicher Binarität, die daraus resultieren mag, dass die Menschen zwei Lungenflügel, zwei Hirnhälften, zwei Arme, zwei Beine, zwei Brustwarzen, zwei Ohren und zwei Augen an einander beobachten. Dazu kommen mindestens zwei verschiedene anatomische Geschlechtsorgane, die ihnen ob der übrigen geteilten Zweisamkeiten obskur erscheinen und in vielen Sprach- und Handlungskodizes tabubelegt wurden; ganz zu schweigen von intersexuellen Menschen, deren Geschlechtsorgane gar keine eindeutige Zuordnung erlauben. Hier steht ein sırr zwischen den Menschen, ein Rätsel: wir mögen zwar wesentlich gleich sein, aber morphologisch (anatomisch) sind wir doch verschieden. Diese grobe Zweifachkeit (die in der Realität freilich viel komplexer als nur zweifach ist), die sich auch noch mit dem täglichen Hin- und Her zwischen Tag und Nacht — und damit West und Ost — zu bestätigen schien, wurde in vielen Sprachen zur Schablone gemacht. Die binäre Metaphorik wurde zu den Metaphors we live by, wie George Lakoff und Mark Johnson die oft unterschätzte Bedeutung metaphorischen Denkens zu einer Überschrift verdichtet haben.

In der Ausbildung der türkischen Sprache — genauer gesagt: in der Tiefenstruktur ihrer generischen Grammatik, welche grammatisch geschlechtslos ist — muss es eine Zeit gegeben haben, in der etwas anderes als die oben beschriebene, beobachtete Binarität prägend war. Es wird oft vermutet, dass diese Erfahrung mit dem Sein des Menschen in der baumlosen Steppe (bozkır), vereint mit den Tieren, vermittlerlos unter dem gökyüzü, dem Himmelsgesicht, zu tun haben könnte. In einer solchen Umgebung erscheint es plausibel, dass etwas anderes als die erdgebundene Binarität vordergründig wirkte: das Universum — zusammen mit dem Danach eines der letzten großen sırr — erscheint auch uns heutigen Menschen nicht binär.

Wir wissen nicht, was Es ist — aber wir sehen zumindest, dass Es nicht dergestalt zweigeteilt oder binär ist, wie es sich erdgebundene Lebewesen quasi vorstellen müssen: Sobald der Mensch die Erdatmosphäre verlässt und einen Blick auf die Erde als einen von unzähligen Planeten werfen kann, bricht die Orientierung vermittelnde Binarität als sinnstiftendes Prinzip in sich zusammen. Der Blick auf die Erde offenbart, dass dort immer überall Westen und Osten zugleich herrscht; im Weltraum jedoch wird eine Ost-West-Orientierung völlig in die buchstäbliche Leere führen. In einem analogen Sinn zur buddhistischen Metapher des Vehikels kann das Raumschiff oder der Satellit als abzustreifendes Fahrzeug zu größerer Erkenntnis gedeutet werden: auf der Erde ist es vielleicht noch aus einem binären Konflikt zwischen den Raummetaphern Ost und West, aus der bipolaren Weltaufteilungsphantasie des Kalten Krieges, hervorgegangen. Im über-irdischen Raum jedoch wird diese Binarität selbst dann absurd erscheinen müssen, wenn auf der Erde Krieg geführt wird.

Über Neşet Ertaş

Neşet Ertaş (1938-2012) wird im Türkischen als Ozan oder Halk ozanı, als Aşık und/oder als Abdal bezeichnet, und der kurdisch-türkische Schriftsteller Yaşar Kemal hat ihm den Spitznamen „Plektron aus der Steppe“ (Bozkırın tezenesi) gegeben — entsprechend seiner Herkunft aus Kırşehir im steppenhaften Inneren Anatoliens. Im Deutschen könnte man für die Begriffe Ozan und Aşık vielleicht am ehesten die (heute ungebräuchliche) Übersetzung Barde oder Volksbarde verwenden; Der aşık zieht traditionell von Ort zu Ort, um zu feierlichen Anlässen wie Hochzeiten zu spielen und zu singen. Abdal (vgl. Pîr Sultan Abdal) hat außerdem eine spirituell-religiöse Bedeutung. Die Bezeichnung wird vor allem in der alevitischen Religion sowie im breiteren Spektrum des islamischen Sufismus für „Gott nahe stehende Männer“ verwendet: eine Bezeichnung, die mir beim Hören von Neşet Ertaş absolut einleuchtet und keiner weiteren Erläuterung bedarf! Sein Instrument war die Bağlama: das auch als Saz bekannte, typisch anatolische Saiteninstrument.

Wie die absolute Asymmetrie der unten stehenden Übersetzung im Vergleich zum Originaltext (der im inneranatolischen Dialekt aus der Gegend um Kırşehir geschrieben ist) zeigt, ist es schwer, zu einer adäquaten Übersetzung zu gelangen, was auch mit dem Charakter der türkischen Sprache zu tun hat: als agglutinierende und vokalharmonische Sprache hat sie eine völlig andere Reimneigung. Die von mir angebotene Übersetzung ist deswegen nur eine Annäherung, sie ist keinesfalls „perfekt“. Besonders mit ana haktır bin ich sehr am hadern, und eigentlich möchte ich es nur in der Originalsprache wirken lassen. Çünkü ben bu sırra ermedim, Ozanım.

Mein Anliegen mit diesem Beitrag ist, Neşet Ertaş etwas bekannter zu machen, ihn zu würdigen und mich für die großartige Musik zu bedanken. Ich lerne und pflege Sprachen immer auch über das Hören von Musik, und seine Musik war (und ist) ein fester Bestandteil meiner Playlist, die ich besonders in Schreibpausen in der Istanbuler Bibliothek (über Kopfhörer natürlich) zum meditativen Abschalten zwischendurch gehört habe.

Übersetzungsversuch von Yolcu

Bir anadan dünyaya gelen yolcu
Görünce dünyaya gönül verdin mi
Kimi böyük kim böcek kimi kul
marak edip heçbirini sordun mu
Bunlar neden nedenini sordun mu

İnsan ölür ama uruhu ölmez
Bunca mahlukat var heç biri gülmez
Cehennem azabı zordur çekilmez
Azap çeken hayvanları gördün mü

İnsandan doğanlar insan olurlar
Hayvandan doğanlar hayvan olurlar
Hepiside bu dünyaya gelirler
Ana haktır sen bu sırra erdin mi

Vade tekmil olup ömrün dolmadan
Emanetçi emaneti almadan
Ömrüyün bağının gülü solmadan
Varip bir canana ikrar verdin mi
varip bir cananın kulu oldun mu

Garip bülbül gibi feryat ederiz
Cehalet(cahiller) elinde küşkün kederiz
Hep yolcuyuz böyle geldik böyle gideriz
Dünya senin vatanın mı yurdun mu

Und hier meine Übersetzung — wie gesagt: bitte nicht jedes Wort auf die Waagschale legen, besser selbst reinhören (s. Link unten):

Reisender, der du von einer Mutter in die Welt gekommen bist
Als du die Welt erblicktest, hast du ihr dein Herz gegeben?
Die einen sind Sterne, die anderen Insekten, die nächsten sind Menschen
Hast du dich gewundert, hast du einen jeden von ihnen gefragt?
Warum sie; hast du nach ihren Gründen gefragt?

Menschen sterben, aber ihr Geist stirbt nicht
Es gibt all diese Lebewesen, keines lacht
Die Höllenqualen sind schwer, sie werden nicht erlitten
Oder hast du schon Tiere im Fegefeuer gesehen?

Vom Mensch geborene werden Menschen
Vom Tier geborene werden Tiere
Sie alle kommen auf diese Welt
Ich bin Gott (Die Mutter ist Gott), bist du an dieses Mysterium gelangt?

Vor Ende der gegebenen Zeit, bevor die Lebensdauer aufgebraucht ist
Bevor der Hüter den Schatz entgegen genommen hat
Bevor die Rose aus dem Garten des Lebens verwelkt ist
Hast du deine Liebe geheiratet und dich ihr versprochen?
Hast du deine Liebe geheiratet und dich ihr untergeben?

Wir kreischen wie seltsame Nachtigallen
In Unwissenheit sind wir wie empfindliche Schatten
Immer sind wir Reisende, so sind wir gekommen und so gehen wir
Ist dir die Welt Mutterland oder Heim?

Und hier ein Link zum Lied:

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